Jemand Anders
und ohnmächtig zusehen, wie sich das scharfe Metall durch den mächtigen Stamm fräste, wie ein Messer durch Butter. Auf dem Parkplatz jenseits der Wiese stand ein Traktor, auf dem Fahrersitz ein hagerer Bursche im Schneidersitz. Trotz seiner braungrünen Tarnjacke und der übergeworfenen Kapuze schätzte sie ihn auf nicht älter als vierzehn. Sie fragte sich gerade, was ein Jugendlicher auf einem solchen Ungetüm von Maschine zu suchen hatte, als er startete, den Gang einlegte und ein paar Meter zurücksetzte. Erst jetzt bemerkte sie das Seil, das sich vom Schwenkkran auf der Ladefläche des Traktors hinauf zu einem der massiven Äste der Rotbuche spannte. Ein alter, vollbärtiger Kerl stand daneben und winkte hektisch. Wollte offensichtlich den Mann mit der Säge vor etwas warnen, aber der lachte nur und gab seinerseits dem Jungen ein Zeichen. In dem Augenblick, als sich der Traktor wieder in Bewegung setzte, begann der Baum zu schwanken. Erschlage sie, erschlag sie alle, schoss es ihr durch den Kopf, aber das majestätische Wesen neigte sich folgsam dorthin, wohin seine Mörder es haben wollten. Der Aufprall war nicht zu hören.
Vielleicht wollte sie ihn auch nicht hören.
Hörte nur die Säge, die schon wieder zu jaulen begonnen hatte. Leichenschändung, dachte sie, welch ein Frevel! Du wirst geschändet und verstümmelt, noch ehe du kalt bist.
In diesem Augenblick erkannte sie die Wahrheit: dass nicht sie entscheiden würde darüber, wie es spielt auf dieser Welt. Dass Leben und Schönheit für immer abhängig sein würden von denen . Von den Männern mit den grünen Latzhosen und den knallroten Hosenträgern.
Mit dem kreischenden Stahl in ihren Händen.
*
Niemals mehr im Frühjahr dein frisches Blattgrün leuchten sehen , schrieb sie zwei Stunden später, niemals mehr den Gesang der Vögel aus deinem Inneren vernehmen.
Sie hockte noch keine dreißig Minuten vor dem grobklotzigen, altertümlichen Monitor im Informatiksaal II, aber ihre Arbeit war schon so gut wie fertig, während sich die anderen noch mit der Einleitung herumschlugen. Ein prägendes Erlebnis , lautete das Aufsatzthema. Es war wieder einmal eine dieser Alibiaktionen, auf die immer mehr Professoren, egal, in welchem Fach, verfielen: selbstständiges Arbeiten am PC, so hieß das Zauberwort. Die Arbeit für die Lehrkraft bestand einzig und allein darin, rechtzeitig einen Raum zu reservieren und einen läppischen Auftrag zu formulieren: Recherchiere im Internet die Unterschiede zwischen Hinduismus und Buddhismus; erstelle eine Power-Point-Präsentation über mögliche Ursachen von Depressionen; finde eine Grafik zum Blutkreislauf der Primaten, und so weiter und so fort. Recherche hin, Power Point her – der Phantasie waren klare Grenzen gesetzt. Im Sprachunterricht durfte man im Informatiksaal außerdem noch Aufsätze verfassen, was für die Lehrer vor allem den Vorteil hatte, dass sich die Arbeiten so leichter Korrektur lesen ließen. Manche Professoren verlangten gar, dass man ihnen die Arbeiten per Mail nach Hause schickte, damit sie sie dann auf dem eigenen Computer speichern konnten – als gratis Vorbereitung für ihre nächste Stunde! Bell gehörte nicht zu ihnen. Er verlangte von seinen Schülern, die Texte auszudrucken, in der nächsten Stunde vorzulesen und anschließend gegenseitig zu verbessern. So sparte er sich die Korrektur zuhause und hatte mit einem Schlag gleich mehrere Unterrichtsstunden abgedeckt. Der Gipfel war, dass er seine Methode als besonders praxisnah hinstellte. Partner- und Teamarbeit seien heutzutage das Allerwichtigste im Berufsleben, pflegte er zu predigen. Ausgerechnet er, der noch nie mit jemandem zusammengearbeitet hatte! Gerade die Deutschlehrer, das wussten alle, waren besonders resistent gegen Kooperation und Fachlehrerkonferenzen. Die meisten begriffen sich wahrscheinlich als verkannte Schriftsteller, die nur in einem Punkt übereinstimmten: dass ausschließlich ihre eigene Unterrichtsmethode, ihre jeweilige Stoffauswahl die einzig richtige und sinnvolle war. Wozu hätte man sich da noch mit anderen absprechen sollen?
Joy drückte die Steuerungs- und P-Taste und stapfte hinüber zum Drucker, der bereits losratterte, ein vorsintflutliches Modell, das aber nach wie vor seine Dienste tat. Sie überflog noch einmal die drei Seiten, setzte auf jedes einzelne Blatt ihre Unterschrift und machte sich auf den Weg, um den Aufsatz abzugeben. Bell hockte im angrenzenden Kabinett, vermutlich erledigte er dort seine
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