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Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kabelka
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dürftigen Unterrichtsvorbereitungen. Sie klopfte an die halb geöffnete Tür, doch er schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken. Natürlich rechnet er nicht damit, dass eine schon nach so kurzer Zeit abgibt, dachte sie ein wenig stolz. Er saß mit dem Rücken zu ihr, vornübergebeugt stierte er auf den Bildschirm. Sie wunderte sich, dass er Kopfhörer in den Ohren hatte. Kleine Pfropfen, die alle Außengeräusche abdichten. Bell und Musik hören!, staunte sie, ich würde gerne wissen, welche Art von Musik der sich so reinzieht! Operetten und Gospel vermutlich, ja, das könnte sie sich am ehesten vorstellen: Nobody knows the trouble I’ve seen, nobody knows but Jesus …
    Sie trat näher.
    Er bewegte sich nicht.
    Seine Arme lagen schlaff auf seinen Oberschenkeln. Döste wohl vor sich hin, der Herr Professor! Als sich sein massiger Oberkörper zur Seite neigte, sah sie, womit er sich beschäftigte.
    Nur wenige Sekunden lang hatte sie freie Sicht auf den Monitor, aber sie genügten, um die Szene zu erfassen: eine grell ausgeleuchtete, opulente Wohnzimmerlandschaft, rote Teppiche, schwarze Ledersofas, schwülstig goldenes Dekor; dazwischen nackte schmale Körper mit gespreizten Beinen; über, unter, in ihnen die erigierten Glieder fetter, schwitzender Männer, die einander zugrinsten, in stillem Einverständnis. Wie Schlächter, die über das Schicksal der Schafe kein Wort zu verlieren brauchen.
    Aber auch die unter ihnen gaben keinen Ton von sich.
    Mein Gott, dachte sie, das sind doch … die sehen aus wie … wie ich!
    Von einem plötzlichen Schwindel erfasst schloss sie für einen Moment die Augen.
    Als sie sie wieder öffnete, flimmerte vor ihr ein liebliches alpines Panorama: scheckige Kühe und schindelgedeckte Hütten vor knallgrünen Wiesen und bläulich schimmernden Gipfeln. Der Bildschirmschoner, natürlich, der verdammte Bildschirmschoner!
    Der Lehrer fuhr auf seinem Drehsessel herum, starrte sie an wie einen Geist.
    „Was willst du?“, zischte er.
    Wortlos hielt sie ihm die Blätter entgegen. Ebenso wortlos riss er sie ihr aus der Hand.

Anfang März 2010
    Wie hat Dr. Sellner mich genannt? Einen atypischen Fall . Von wegen Glück im Unglück und so.
    Der atypische Fall denkt nach über die kleinen Unterschiede. Die immer größer werden, je länger man sie betrachtet, die sich auswachsen von Nuancen zu Gegensätzen. Nein, nicht das unterschiedliche Wesen von Mann und Frau beschäftigt mich, obwohl dies vielleicht angebracht wäre; und auch nicht die Frage, warum ein ehemals tief Gläubiger wie ich seit Jahrzehnten ganz tadellos ohne Gott auskommt.
    Der atypische Fall und das Phänomen Zeit …
    Über die Zeit kannst du natürlich endlos nachdenken, insbesondere über unseren wahnwitzigen Umgang mit ihr. Ständig dieser Stress, ständig dieser Drang, irgendeinen Sonntagsfahrer überholen zu müssen. Es gibt ja praktisch nur Sonntagsfahrer. Mit einer Ausnahme, versteht sich.
    Vier Varianten bieten sich an. Vier Muster.
    Nummer eins: Die Polizei zieht dich aus dem Verkehr, und du verlierst jetzt wirklich viel Zeit – auf der Wache.
    Oder du holst dir einen Herzinfarkt vor lauter Zeitstress und lässt noch mehr wertvolle Zeit liegen – im Krankenhaus und auf der Reha.
    Drittens: Du baust einen Totalcrash und verlierst das Leben. Hebst quasi die Zeit vollständig auf, wo du ihr doch nur ein paar Minuten abzwacken wolltest. Ärgerlich, sicher, aber das passiert dir garantiert nur ein Mal.
    Last, not least und – weil so alltäglich, so unspektakulär – die gemeinste aller Aussichten: Derselbe Typ, den du nach einem selbstmörderischen Manöver schließlich doch noch überholen konntest, setzt sich in der nächsten Raststätte dir gegenüber und lächelt dir zu, ehe er wieder ins Auto steigt. Ähnlich wie in Duell , dem ersten Spielfilm von Steven Spielberg.
    Aber auch das ist nicht mein eigentliches Thema …
    Was ist mein Thema?
    Ist es das Regenwurmmäßige der Zeit, ihre Fähigkeit, aus der Kontinuität eines Menschenlebens zwei Perioden zu machen, die sich unabhängig voneinander weiterschlängeln? Vor dem Unfall, nach dem Unfall … Der Unfall, der zu dieser elenden Lücke führte. Was hat das Loch mit dem Rundherum zu tun? Definiert nicht eines das andere? In seinen Ausmaßen jedenfalls – über den Inhalt ist damit noch nichts ausgesagt.
    Über den Inhalt des Nichts.
    Nach dem Unfall ist vor dem Unfall .
    Hieß so nicht dieser blöde Spruch im Werbespot einer Unfallversicherung? Denken Sie

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