Jemand Anders
beizeiten an Ihre Zukunft! Meine Zukunft, mein neues Leben. Das punziert ist mit einer tiefen Gravur: Kopf-schmer-zen! Keiner, der noch nie richtiges Schädelweh hatte, kann sich vorstellen, wie es sich anfühlt, nein, wie es ist . Denn wo sonst bist du so sehr eins mit dir wie im Kopfschmerz? Wer ihn nicht kennt, kann höchstens versuchen, andere Schmerzen hochzurechnen, im wahrsten Sinn des Wortes: hinauf in den Schädel. Aber Hochrechnen und Erleben sind nicht dasselbe.
Im Augenblick bin ich nahezu schmerzfrei. Warum also jammern? Ist mein Alltag danach so viel anders geworden? Angesichts dessen, was wir im Leben sonst so alles vergessen, würde ich diese eine Lücke nicht überbewerten … Annehmen, so laute das Zauberwort. Sie müssen Ihre Defizite nur annehmen, das macht alles viel leichter. Aber wenn es einem der Falsche sagt? Einem Hirnwichser wie Dr. Sellner nimmt man nicht einmal die größten Weisheiten ab!
Ein müdes, verklebtes Paar Augen, das mich da im Spiegel mustert. Das Kreisen der Zahnbürste kann den bitteren Geschmack nicht vertreiben, der an meinem Gaumen haftet. Ja, ich habe Angst davor, ins Studio zurückzukehren, warum soll ich es mir nicht eingestehen.
Vor dem Getuschel, das einen erwartet.
Natürlich werde ich nichts davon hören in meinem gut isolierten Glasverschlag, kein Laut dringt zu mir herein. Aber Blicke und Gesten können Bände sprechen, und erst recht Köpfe, die auseinanderfahren, sobald sie sich beim Beobachten beobachtet fühlen. Von einem Hirngeschädigten ertappt, der immerhin ihr Chef ist. Wir sitzen alle in der Auslage. Regina hat das New Life in ein modernes Großraumbüro umgemodelt, in dem alles transparent zu sein hat, von außen einsehbar. Weil wir doch nichts zu verbergen haben . Sie ist voll auf Kurs mit dieser Einstellung, die modernen Planer öffentlicher Gebäude hätten ihre helle Freude an ihr.
Nein, ich muss nicht befürchten, dass man mir das Loch im Oberstübchen ansehen könnte. Den partiellen Ausfall meiner Software. Mein Schädel ist nicht glatt rasiert wie bei jenen Zombies, die mir im Lift und auf den Gängen der Neurochirurgie manchmal begegneten. Mich verunstalten keine Nähte, keine Narben. Zumindest keine sichtbaren. Hirntumore auf dem Vormarsch , hatte der Aufmacher der Zeitschrift gelautet, die mir auf der Station als erste in die Hände fiel. Gründe für diesen Vormarsch gebe es vielerlei: die allgemeine Zunahme karzinogener Substanzen in unserer Umwelt, hormonelle Faktoren, genetische Vorbelastung, die Bestrahlung des Schädels im Kindesalter, Absiedelungen von anderen Krebsarten im Gehirn, sogar Viren … die ganze Palette. Es war nicht eben eine erbauliche Krankenhauslektüre gewesen. Obwohl man es vielleicht auch anders sehen konnte: als eine, vielleicht ein klein bisschen zynische, Aufmunterung für den, der seine momentanen Defizite einem granitenen Felsbrocken verdankte.
Nur ein Erinnerungs-, kein Haarausfall. Glück im Unglück, wie gesagt.
*
Als ich endlich die Tür mit dem gelben Logo aufstoße, ist alles ganz anders. Joy, attraktiv wie eine asiatische Prinzessin, schenkt mir ihr immer bezauberndes, immer ein wenig scheues Thailächeln.
„Sind Sie wieder ganz gesund, Herr Moser?“
Furat serviert mir einen Willkommenstrunk in knalligen Farben. Der bullige Türke liebt es, Energydrinks aufzupeppen wie Cocktails.
„Furats Special. Jede Menge Eiweiß, jede Menge Energie. Geht natürlich aufs Haus. Und bitte: ex!“
Ich füge mich der Anweisung und fühle mich gleich besser. Jetzt kommen auch Susanne, Lola und die anderen, begrüßen mich mit Küsschen links, Küsschen rechts und erkundigen sich nach meiner Gesundheit. Ich könnte sie alle umarmen dafür, wie herzlich sie mich empfangen. Gut, wieder einmal den Knödel der Rührung in der Kehle zu spüren.
Regina lächelt ebenfalls, aber die Anspannung ist ihr anzusehen. Ich kann es ihr nicht verdenken. In den letzten Wochen ist aus ihrer üblichen Doppelbelastung eine dreifache geworden. Ich habe mich anfangs dagegen gesträubt, von ihr versorgt zu werden.
Bin ich ein kleines Kind?
Nein, aber sei jetzt bitte nicht kindisch und lass dir helfen.
Schließlich habe ich begriffen, dass ich auf sie angewiesen bin.
Um meine Konzentrationsfähigkeit steht es nicht zum Besten. Würde ich es jedes Mal zugeben, wenn ich mich in der eigenen Wohnung nicht mehr zurechtfinde, sie würden mich gleich wieder auf Reha schicken. Worauf ich nicht heiß bin, ganz und gar nicht.
Vertrauen
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