Jemand Anders
gelten neben sich, dem Nabel der Welt, in dem die Kleinmütigkeit der Großkopferten sich zusammenballt zu einem unendlich verächtlichen, zersetzenden Gegrinse. Deshalb zieht er es vor, den Stammtischen fernzubleiben. Weil es als Affront betrachtet würde, der gönnerhaften Einladung, dich zuwazusitzen , nicht nachzukommen, vermeidet er es tunlichst, sich überhaupt in den Wirtshäusern sehen zu lassen.
Zu viel Nähe kann noch schlimmer sein, als wenn du abgestempelt bist als Zigeuner oder Intellektueller.
Er beobachtet, wie sie auf dem ersten Gerät Platz nimmt: Abduktion, Nr. 4. An der Haltung von Iris Kranzl ist nichts auszusetzen, auch nicht, als sie auf die Adduktionsmaschine wechselt. Keinerlei Veranlassung also zu intervenieren. Aber kann man nicht einfach einmal ein positives Feedback geben, ein wenig Präsenz zeigen bei der Neuen? Er schlendert zu ihr hinüber. Strafft die Schultern, zieht den Bauch ein. Nicht zu viel natürlich. Oft genug hat er bei älteren Klienten schon erlebt, wie peinlich das wirkt.
Sie registriert sein Näherkommen. Lächelt ihn an, ohne ihre Übung zu unterbrechen.
Er stellt sich vor. Nennt nur den Vornamen, sein voller Name ist ohnehin an der Trainingsjacke abzulesen. Und seine Funktion geht schon daraus hervor, dass nicht Trainer oder Physiotherapeut darunter steht.
„Und wie gefällt Ihnen unser Studio?“
Er wirft einen Blick auf die digitale Anzeige. Die dreißigste Wiederholung bei vierzig Kilo – nicht schlecht für den Anfang.
„Ausgezeichnet, auf den ersten Blick.“ Jetzt gerät sie doch etwas ins Schnaufen.
„Ich weiß, Sie haben ja grade erst begonnen bei uns. Aber so wie Sie rangehen, sind Sie nicht das erste Mal in einem Fitnessstudio.“
Ein hübsches Kompliment. Sie bedankt sich mit einem artigen Lächeln.
„Wenn Sie etwas brauchen oder wissen möchten – ich bin für Sie da.“
Er deutet auf den Glaskasten, um klarzustellen, wo er zu finden sei. Regina sitzt im Moment nicht an ihrem Schreibtisch. Vermutlich kümmert sie sich gerade um die Aufstellung der neuen Kabelzugwand.
Iris Kranzl. Ein Blumenkranz von einem Namen.
Als er weitergeht, spürt er ihren Blick im Rücken.
*
Wie hieß das gleich? Sich verzehren vor Sehnsucht …
Ja, er verzehrt sich vor Sehnsucht nach ihr. Nach ihrer schmalen Stirn, ihren sinnlichen Lippen, den zarten Grübchen auf ihren Wangen. Er findet Grübchen wunderschön. Frauen, die keine haben, sollten sich chirurgisch welche machen lassen.
Aber ist es mit zweiundsechzig nicht ein bisschen spät für eine Romanze? Zeichen einer Midlifecrisis? Die typische Midlifecrisis bricht doch eher um die vierzig, fünfzig herum aus als mit zweiundsechzig. Wie haben sie ihn bei seinem letzten runden Geburtstag aufgezogen: Sechs null, null Sex … Andererseits: Er hat Jahrzehnte seines Lebens tiefgekühlt verbracht, schongefrostet hinter Internats- und Klostermauern – da mag sich schon manches ein wenig verzögern.
Zigmal ruft er an bei ihr, sie nimmt nicht ab. Immer hinterlässt er dieselbe Nachricht in ihrer Sprachbox: Ruf an, bitte!
Sie ruft nicht zurück. Will sie ihn quälen?
Als sie sich endlich meldet, benimmt er sich wie ein dummer Schuljunge. Zittert am ganzen Körper, bringt kaum ein Wort heraus. Mit Flirten und Dates hat er so gut wie keine Erfahrung, woher auch? Als er und Regina sich kennenlernten, war keine Hitze im Spiel. Respekt, ja, und Wohlwollen, und Zuneigung. Mit der Zeit auch Vertrauen, gewiss. Aber keine heißen Träume, keine belegte Zunge, kein Turteln. Wenn man Pläne schmiedete, ging es um praktische Dinge. Sie waren beide klug genug, gleich von Anfang an ihr Terrain abzustecken. Den jeweiligen Claim. Gold hofften sie darauf nicht zu finden. Worin du so viel Zeit und Energie investierst, ist dir auch ohne Nuggets einiges wert. Wer wie er die längste Zeit seines Lebens partnerlos verbracht hat, weiß, was er durch eine Beziehung aufgibt. Ihr ging es nicht viel anders, auch wenn sie schon einmal mit einem Mann zusammengelebt hatte. Oder gerade deshalb? Jedenfalls hatte keiner von ihnen das Feuer vermisst. Omnia tempus habent . Alles hat seine Zeit.
Er trifft sich mit ihr in der Kornblume, einer ziemlich heruntergekommenen Bude in Arndorf, aber das spielt keine Rolle. Mit dem Auto ist das kleine, schmuddelige Café in einer Viertelstunde zu erreichen. Und die Wahrscheinlichkeit, dort auf einen Bekannten zu treffen, ist gering.
„Was würde dein Mann machen, wenn er von uns wüsste?
„Er erfährt es
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