Jemand Anders
Regina solche Ideen nicht goutieren würde. Weshalb er sie auch für sich behält.
Nur mit einem könnte er allenfalls darüber reden: mit Willi Gebeshuber, dem Fassl. Der Willi ist der Einzige unter seinen Bekannten, der noch nie den Fuß in das New Life gesetzt hat und es mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft nicht tun wird. Ob es sich nun Studio nennt oder Center.
Der Willi ist ein Original, und ein gewichtiges obendrein. Seinen Spitznamen hat er nicht von ungefähr. Ständig behauptet er, abgenommen zu haben: Stolze sieben Kilo in den letzten vier Wochen! Schau, schau, sagen seine Freunde dann und wackeln anerkennend mit den Köpfen; aber keiner kann nachvollziehen, wo der Willi die sieben Kilo abgebaut haben will. Seine Wampe scheint täglich an Umfang zuzunehmen, seit er wieder raucht (nach vierzehn Jahren Abstinenz raucht er jetzt wieder, das musst du dir einmal vorstellen!), und seine blauädrigen Backen und das Krötenkinn wirken schwammiger als je zuvor. Keine Rede von eingefallenen Raucherwangen und so. Der Willi, ja, das ist schon einer, heißt es höchstens. Was sie nicht sagen, sondern jeder nur für sich denkt: Wie lang wird es seine Pumpe noch machen? Bei dem Lebenswandel? Manchmal schaut er so drein, als hätte ihn eh schon ein Schlagerl gestreift. Alle denken sich das, aber niemand spricht es aus.
Vielleicht fürchten sie, das Reden darüber könnte schon zum I-Tüpferl für ihn werden. Und wer will schon das Fass zum Überlaufen bringen?
Andererseits: Gefruchtet haben dezente Hinweise bei ihm eh noch nie. Ich überleb’ euch alle zusammen, werdet’s sehen. Fitness als solche – und künstlich antrainierte im Speziellen – sei ihm verdächtig; das verkündet er gerne und ungefragt. Sie sei der Ausdruck einer kranken Weltanschauung, einer auf festgelegte Formate fixierten Ideologie, deren Vertreter sich mit künstlichen Präparaten und Vitaminzusatzstoffen vollstopfen, nur um dann so aufgepumpt auszusehen, wie sie nun einmal aussehen: Künstlich gezüchtete Terminatoren, die nicht mehr normal gehen können, weil ihre Oberschenkel so wahnwitzig aneinanderreiben.
Diese Beobachtung mag ja stimmen. Aber aus Willis Mund klingt sie schon ein bisschen komisch. Weil dem Willi seine Oberschenkel auch ganz ohne Pillen und Shakes ganz ordentlich aneinanderreiben.
*
Als sie den Raum betritt, geht ein Ruck durch ihn. Er sieht sie zunächst nur von hinten. Aber was heißt nur : Verrät die Rückseite nicht bereits alles, lässt sich an ihr nicht die Essenz einer Figur, insbesondere einer weiblichen, besser ablesen als an der Frontalansicht, wo einen Make-up und hervorquellende Drüsen ablenken? Mit einem Blick erfasst er die Wohlproportioniertheit ihrer Lenden, die Straffheit ihres Rückens. Er ist hingerissen.
„Wer ist das?“ Er stupst Joy an, die gerade für das Ein- und Auschecken der Kunden zuständig ist.
Joy durchsucht die Kartei im Computer.
„Iris. Iris Kranzl. Sie und Herr Reichert sind gestern neu eingestiegen.“
Kranzl, Reichert … die Namen sagen ihm nichts. Aber was will das schon heißen? Nach eineinhalb Jahrzehnten in dieser Stadt kennt er – abgesehen von seiner Klientel – nur wenige echte Treiberner. Viel zu wenige, laut Regina. Du musst mehr unter die Leute – als ein Geschäftsmann muss man alle kennen und mit allen können! Aber er hört nicht auf sie. Treibern, das ist Wien dividiert durch Salzburg, der Rest multipliziert mit Bad Ischl. In Treibern kann man nicht abseitsstehen. Höchstens im Abseits, das dafür auf ewig. Weil man zum Beispiel wegen einer ein bisserl dunkleren Haut gleich als Zigeuner betrachtet wird. Oder wenn man einen IQ von über hundert hat. Er is’ sauber , sagt man hier über jeden, dem der Zugang zum inneren Kreis gewährt wird; als hätte man ihn vorher nach einer versteckten Kanone abgetastet. Und Intellektueller – das gilt in Treibern als das schlimmste Schimpfwort überhaupt. Wer es aber als Zuagraster schafft, an einem der eichenen Stammtische in den Treiberner Wirtshäusern Platz nehmen zu dürfen, wer also geeicht und für würdig befunden worden bist, räsoniert bald wie jedermann darüber, was alles immer schlechter wird, immer grauslicher.
Nicht einmal der Speck schmeckt mehr nach Schwein! Plastiktrümmerl, nix wie in Plastikfolie eingeschweißte Plastiktrümmerl! Wer, bitte, soll das noch fressen außer den Touristen?
Sie jammern und lästern, raunzen und vernadern. Lassen nichts und niemanden
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