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Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kabelka
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erwartet. Wie geht’s dir jetzt eigentlich? Wieder auf dem Damm?“
    „Es geht so, danke. Bis auf mein Gedächtnis, wie gesagt.“
    Ich komme mir reichlich blöd vor. Bis auf mein Gedächtnis … Was rede ich daher! Ist das Gedächtnis nicht das Zentrale? Das, was einen erst zu etwas Unverwechselbarem macht, wovon wir so etwas wie Persönlichkeit ableiten? Aber vielleicht überschätzen wir ja auch die Bedeutung unseres Gehirns. Vielleicht ist unser übergroßer Neocortex, dreimal so groß wie der des Schimpansen, glorreicher Sitz unseres Bewusstseins, sogar das Hauptproblem. Führt nicht erst das Bewusstsein um unser Ich zur Trennung vom Rest der Natur?
    „Was genau willst du von mir?“, unterbricht sie meinen philosophischen Anfall. Ich bin überrascht, wie frostig sie klingt. Dabei habe ich ihr doch am Telefon erklärt, was ich mit dem Treffen bezwecken wolle.
    „Ich wüsste einfach gerne mehr über Johannes, deinen verstorbenen Mann. Immerhin ist es in meinem Studio passiert. Keine zwei Wochen, nachdem ein anderer dort umgekommen ist. Ich würde gerne mehr darüber erfahren. Kannst du mir etwas über ihn erzählen?“
    Sie legt den Kopf schief und sieht mich schräg von unten an. „Nichts, was ich dir nicht schon einmal gesagt hätte.“
    Resigniert hebe ich die Hände.
    „Kannst du dich wirklich nicht mehr daran erinnern? An nichts?“
    Ich schüttle den Kopf.
    „Der letzte Tag, den ich noch klar vor mir habe, ist der siebte Jänner.“
    „Der Tag, an dem J. R. und ich erstmals in dein Studio kamen.“
    „Genau. Ich weiß noch, dass ich dich begrüßt habe. Danach ...“ Ich zögere einen Augenblick. „Kompletter Filmriss. Volle drei Wochen. Die Ärzte finden das sehr ungewöhnlich. Üblicherweise handelt es sich bei so einem Ausfall nur um Minuten, maximal um Tage. Aber vielleicht kehrt die Erinnerung ja doch noch zurück. Oder wenigstens Bruchstücke.“
    „Sag mir nur das Eine: Warst du schon einmal hier, in diesem Lokal?“
    „Nicht, dass ich wüsste. Wieso fragst du?“
    „Ganz sicher nicht?“
    „Nein!“
    „Und du hast auch kein Handy unterm Tisch versteckt?“
    „Wie bitte?“
    Ich verstehe nur Bahnhof. Redet sie immer so unzusammenhängend?
    Sie wirkt unschlüssig, als ob sie eine schwierige Entscheidung zu treffen hätte. Ich frage mich, was sich in ihrem hübschen Köpfchen wohl gerade abspielt.
    „Was genau möchtest du wissen über Johannes?“
    „Na ja, was er so getrieben hat – beruflich, privat. Ich weiß nur, dass Regina mir gesagt hat, dass ich nicht auf seinem Begräbnis war. Das ist doch eigenartig, oder?“
    „Nein“, sagt sie, „nein, das denke ich nicht.“
    Pause. Offenbar weiß sie nicht, womit sie beginnen soll.
    „Magst du nicht einfach ganz von vorne anfangen?“, schlage ich vor. „Ich meine, wie ihr euch kennengelernt habt, warum ihr hierher gezogen seid und so.“
    Sie stößt hörbar den Atem aus. „Komisch, genau das hast du mich schon einmal gefragt!“
    Das ist allerdings eigenartig. Ich überlege, ob ich mich damals, wann und wo immer das war, aus demselben Grund nach ihrer Geschichte erkundigt haben könnte wie jetzt. Dieselbe Frage, aber womöglich ein anderes Motiv?
    „Da hast du allerdings weniger ... aufdringlich geklungen“, setzt sie fort, „nicht so nach Verhör.“
    „Tut mir leid. Aber du siehst doch, ich tappe im Dunkeln wie ein Grottenmolch.“
    Ihr Lachen klingt bitter.
    „Grottenmolche tappen nicht. Höchstens Lustmolche. Du verstehst nicht viel von Biologie.“
    Ich verstehe von überhaupt nichts viel, denke ich, nicht zum ersten Mal. Das Einzige, wovon ich jemals etwas verstand, war, kleinen Buben vor dem Einschlafen Geschichten vom lieben Gott zu erzählen.
    „Okay“, sagt sie, als hätte sie gehört, was mir durch den Kopf ging. „Du willst etwas über J. R. und mich wissen – du sollst es erfahren. Unter einer Bedingung: dass du mir sagst, welche Gefühle du jetzt für mich empfindest. In diesem Augenblick.“
    „Gefühle? Wie meinst du das?“
    „Herrgott, das ist doch nicht so schwer zu verstehen! Gefühle, das ist zum Beispiel das, was bisweilen zwischen Mann und Frau …“
    Mit einem Schlag komme ich mir unendlich alt vor. Ich zittere. Etwas an meiner Reaktion macht sie wütend.
    „Weißt du, ich kann einfach nicht glauben, dass man komplett vergisst, mit wem man noch vor ein paar Wochen unbedingt ins Bett wollte.“
    Sie sieht mich unverwandt an. Unwillkürlich werfe ich einen Blick über die Schulter, ob uns

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