Jemand Anders
Sache; aber je tiefer er gräbt, umso schwerer fällt es ihm, etwas wegzuwerfen. Es liegen so viele Körnchen Wahrheit vor uns, wer soll da den Überblick behalten? Vielleicht sollte man das Archiv als Scheune betrachten, wo all diese Körnchen eingelagert werden, bis einmal die Zeit reif ist für sie.
Bis wir sie verdauen können.
Er hat die Hoffnung aufgegeben, Pater Xaver würde von sich aus auf die Geschichte zu sprechen kommen. Als er ihm das nächste Mal alleine im Park begegnet, packt er die Gelegenheit beim Schopf.
„Kannst du mir erklären, Bruder, wieso deine Chronik im April 1938 endet? Hat dich jemand davon abgehalten, sie weiterzuführen?“
Der Greis schüttelt energisch sein Haupt. „Niemand hat mich davon abgehalten. Es herrschte das reine Chaos damals, Umsturz in jeder Hinsicht. Und es wurde ja auch bei uns alles auf den Kopf gestellt, wer findet da noch Zeit fürs Schreiben. Aber lassen wir das, requiescat in pace . Was bringt es, alles wieder aufzuwühlen? Höchstens schlimme Erinnerungen.“
Pater Xavers Augen sind flehentlich auf ihn gerichtet, aber Fidelis lässt nicht locker.
„Inwiefern auf den Kopf gestellt? Ihr durftet doch weiterhin im Schloss bleiben. Was hat sich für euch verändert?“
„Was?“, stöhnt der andere. „ Alles hat sich verändert. Wir wurden enteignet. Erst Mitte dreiundvierzig, nach Stalingrad, hat man das Schloss wieder dem Orden zurückgegeben.“
„Aber in deinen letzten Notizen vom April achtunddreißig schreibst du doch, dass die Verhandlungen des damaligen Rektors von Erfolg gekrönt waren?“
„Danach sah es zunächst auch aus. Aber die Nazis spielten Katz und Maus mit uns. Wochenlang. Einen Tag hieß es, wir dürften das Heim behalten, am nächsten war wieder alles ganz anders. Schließlich mussten wir mit zweiundneunzig Zöglingen nach Gamprechtshausen übersiedeln, nicht einmal die Sommerferien haben sie abgewartet. Dabei hat Pater Rektor wirklich nichts unversucht gelassen ...“
Abrupt wendet er sich zum Gehen.
„Warte, Bruder!“, ruft Fidelis. „Es gab doch da einen gewissen Peter Klein, nicht wahr?“
Xaver bleibt wie angenagelt stehen.
„Ja?“
„Den die Gestapo abgeholt hat.“
„Was ist mit ihm?“
„Nun, ich verstehe nicht, wie ein Zögling mosaischen Glaubens überhaupt ins Konvikt kommen konnte. Und das zu dieser Zeit!“
„Von wegen mosaischer Glaube. Die Kleins waren Konvertiten, wie viele jüdische Familien aus dem Großbürgertum. Vielleicht hatten sie sich mehr Sicherheit davon erwartet, dass sie sich taufen ließen und ihr Kind sogar in ein katholisches Heim steckten.“
„Keine Frage des Glaubens also, eher ein Zeichen von Assimilation?“
Xaver nickt Zustimmung.
„Und was ist mit dem Buben passiert? Hast du ihn je wiedergesehen?“
Fidelis spürt, wie es in dem anderen arbeitet.
„Keiner hat ihn mehr gesehen. Wieso hätten ausgerechnet wir ihn wiedersehen sollen?“
„Immerhin war er ein Konviktler. Einer eurer Schutzbefohlenen. Ihr habt euch doch sicher erkundigt, was aus ihm geworden ist?“
Für einen Augenblick treffen sich ihre Blicke. Die Augäpfel des Alten stehen hervor, als würde ihn einer würgen.
„Uns erkundigt? Bei wem, bitte? Und was, glaubst du, hätte das gebracht?“
„Na ja, ich könnte mir vorstellen, dass es einem Verhafteten schon geholfen hätte, wenn sich ein Priester nach seinem Schicksal erkundigt ...“
„Phh! Woher willst du wissen, was damals geholfen hat und was nicht!“
„Aber hat es euch nicht einmal interessiert?“
Der andere schlägt die Augen nieder und schweigt. Fidelis erwartet schon keine Antwort mehr, als es aus Xaver herausbricht.
„Wir brauchten nicht nachfragen. Ein Judas weiß, was denjenigen erwartet, den er verrät.“
„Du sprichst in Rätseln, Bruder!“
„Das Schloss und der Park waren unsere Silberlinge, große, glänzende Silberlinge. Oder hätten es zumindest werden sollen. Denn das Opfer war umsonst, alles umsonst ... Mit Mördern und Dieben sollte man sich eben auf keinen Tauschhandel einlassen.“
Welcher Tauschhandel? Aber ehe Fidelis noch danach fragen kann, wendet Xaver ihm wieder das Gesicht zu. Etwas Verstörtes schwimmt in den wässrigen Augen.
„Wir haben dem Teufel ein Opfer zugeschanzt, verstehst du! Ausgerechnet wir, die wir geschworen hatten, niemandem zu dienen außer Gott unserem Herrn!“
„Wer ist wir ?“
„Bruder Reinhard, der damalige Rektor, und ich, der Präfekt von Peter. Man hat uns unter Druck gesetzt,
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