Jene Nacht im Fruehling
verraten.«
Maxie - nein, Samantha - nickte.
»Dein Kleid«, sagte Vicky, und als Sam sich umdrehte, hatte Vicky Maxies Kostüm über dem Arm. Es war keine Kopie, wie es ursprünglich geplant war, sondern das Original. Mike hatte ihr erklärt, es wäre zu teuer gewesen, eine Kopie des Kleides anzufertigen, und deshalb hatte Jilly mit einem Fachmann Kontakt aufgenommen, der das Kleid fachmännisch reinigen konnte.
Samanthas Hände zitterten, als sie das Kleid von Vicky entgegennahm.
»Der Schmuck liegt auf dem Tisch, die Unterwäsche auf dem Stuhl hinter dir.«
»Hals- und Beinbruch! rief ihr Lila noch zu, als sie, gefolgt von Vicky, mit den anderen Mädchen aus der Garderobe marschierte.
Als Samantha nun ganz allein in dem langen, schmalen Umkleideraum stand, das rote, einst mit Blut besudelte Gewand auf den Armen, spürte sie, wie ihr ein Schauer über die Haut lief. Sich umdrehend, sah sie die Couch, die mit den abgelegten Sachen der anderen Frauen bedeckt war: mit zerrissenen Strümpfen, schmutzigen Blusen, Sandalen ohne Absätze. In einer Ecke lag noch so ein Berg von Kleidungsstücken, unter dem - das spürte sie - Maxies kleine Reisetasche versteckt sein mußte, in der sich ihre und Mikes Ersparnisse befanden - ungefähr fünftausend Dollar in Hundert-Dollar-Scheinen.
Immer noch am ganzen Körper zitternd, hängte Samantha Maxies Kleid über die Rückenlehne eines Stuhls, zog sich aus und dann Maxies Unterwäsche an. Und wie beim erstenmal spürte Samantha, daß sie in diesem Moment in die Haut eines anderen Wesens schlüpfte, so als besäßen diese Kleider magische Kräfte, die ihren Träger zwangen, eine andere Gestalt anzunehmen. Kein Wunder, dachte Sam, als sie das Seidenkleid über den Kopf streifte: Was damals in jener besagten Nacht geschah, mußte sich dem Stoff dieses Gewandes unauslöschlich eingeprägt haben.
Vor ein paar Tagen hatte ihre Großmutter ihr erzählt, was tatsächlich am Abend des 12. Mai 1928 passiert war, der das Leben so vieler Menschen verändert hatte. Maxie hatte Sam alles bis zu dem Augenblick berichtet, als sie mit ihrer Handtasche und Half Hands Tasche durch den Bühneneingang den Klub verlassen hatte.
Samantha hatte ihrer Großmutter schweigend zugehört, sogar etwas von dem nachempfunden, was sie ihr erzählte, aber zuweilen war es ihr so vorgekommen, als wäre sie innerlich abgestorben. Erst zwei Tage vorher hatte man ihr erzählt, daß ihre Mutter gefoltert worden war, ehe sie kaltblütig und auf grausamste Weise ermordet wurde. Gab es Grenzen für das, was ein Mensch empfinden konnte? Wieviel Leid konnte ein Mensch eigentlich ertragen?
Nachdem sie sich das Kleid übergestreift hatte, setzte sie sich an den Tisch vor den Spiegel und überprüfte noch einmal ihr Make-up.
»Noch zehn Minuten, Maxie«, rief eine Männerstimme draußen vor der Garderobentür.
In zehn Minuten würde sie vor diese Leute hintreten und für sie singen müssen. Sie würde das tun, was Maxie in jener Nacht getan hatte.
Sie drehte sich abrupt zur Garderobentür um und starrte sie an. Sie sah schmutzig aus, aber da waren keine Kratzspuren im Holz. Niemand hatte diese Garderobentür mit den Fingernägeln bearbeitet.
Sie zwang sich dazu, wieder in den Spiegel zu sehen. Sie mußte sich daran erinnern, daß dies lediglich ein Spiel war und sie die Rolle von Maxie übernommen hatte, weil sie Mike helfen wollte. Er sagte, er würde heute abend Fotos machen für sein Buch und . . .«
Sie senkte den Kopf und preßte die Finger gegen die Schläfen. Ornette blies draußen auf seiner Trompete, und sie hatte nun Mühe, sich darauf zu besinnen, daß das alles nur ein Spiel war. Es war so schwer, sich auf ihre Rolle zu konzentrieren, wenn sie immer wieder an ihre Mutter denken mußte und an Cals Einsamkeit, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte. Alles, was sie wußte, was sie erfahren und miterlebt hatte, schien jetzt in ihrem Kopf zu schreien, statt sich still zu verhalten wie sonst.
Und das hatte alles in dieser Nacht begonnen - alles, was dann geschehen war, hatte seine Wurzeln in dieser langen, schauderhaften Nacht, die so viele Leben auslöschte, so viele Leben ruinierte und so viel Haß säte.
»Ich kann es nicht«, flüsterte Samantha und wollte aufstehen, aber da sah sie eine Puderschachtel, eine ganz gewöhnliche blau-weiße Puderschachtel mit einer großen Puderquaste aus Lammfell darin. Und die Schachtel war mit ganz gewöhnlichem staubfeinem Puder gefüllt.
Sie nahm die Quaste und
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