Jene Nacht im Fruehling
betrachtet sie. Vielleicht fing alles mit dem Puder an, den Maxie Michael Ransome über den Kopf schüttete. Ein paar Sekunden lang legte Samantha den Kopf auf die Arme, die sie auf den Schminktisch stützte, und öffnete ihr Bewußtsein für all das, was man ihr erzählt hatte, versuchte es nicht mehr zu unterdrücken, nicht mehr dagegen anzukämpfen, sondern gab sich ganz diesen Erinnerungen hin.
»Du bist dran«, sagte Vicky.
Als Miss Samantha Elliot jetzt vom Schminktisch aufstand und noch einmal ihre Frisur im Spiegel kontrollierte, war sie Maxie und bereit für ihren Auftritt.
34
Mittelwesten
1921
Mary Abigail Dexter schoß, als sie vierzehn Jahre alt war, auf ihren vierten Stiefvater, der sie seit ihrem zwölften Lebensjahr vergewaltigt hatte. Sie bedauerte nur, daß die Kugel ihn nicht tötete. Sie hatte sich zwar vorgenommen, ihn umzubringen, aber sie hatte solche Schmerzen, war so wütend und weinte so heftig, daß ihre Hand zitterte und sie ihr Ziel verfehlte. Und statt die Pistole nun auf seinen enormen Bauch zu richten, hatte sie dummerweise auf seinen recht kleinen Kopf gezielt, und so streifte die Kugel nur seine dichtbehaarte Schulter, statt in seinem Mund zu landen, der sie wieder einmal auslachte.
Aber der Schuß und der Anblick seines eigenen Blutes erschreckte den Bastard doch lange genug, daß sie aus dieser Bretterbude, die sie als Haus bezeichneten, flüchten und davonrennen konnte, was sie in der Vergangenheit schon mehrmals vergeblich versucht hatte.
Zwei Tage war sie dann zu Fuß unterwegs, ohne etwas zu essen. Das war für Abby aber nichts Ungewöhnliches, weil ihre Mutter zumeist zu betrunken oder zu sehr mit Männern beschäftigt war, um ihrem einzigen Kind etwas kochen zu können. Und als sie nun weit genug von ihrer »Heimatstadt« - ein Ort, der fest daran glaubte, daß die Kinder für die Sünden ihrer Eltern zu büßen hatten - entfernt war, tauschte sie die Pistole für eine Busfahrkarte nach New York ein - eine Stadt, in der sie hoffte, anonym leben zu können.
Als sie in New York ankam, kaufte sie sich von dem bißchen Geld, das ihr noch geblieben war, ein billiges Kleid aus Kunstseide, ein Paar hochhackige Sandalen und einen Lippenstift, um sich damit ein möglichst erwachsenes Aussehen zu geben. Dann fand sie auf einer Parkbank eine einen Tag alte Zeitung und begann, sich einen Job zu suchen.
Das einzige Ziel, das Abby in diesem Moment vor Augen hatte, war, um keinen Preis so ein Dasein zu führen wie ihre Mutter, deren Lebensunterhalt von den sexuellen Bedürfnissen der Männer abhing. Die Männer betrachteten Abbys Mutter als gutherzige Hure, die immer für einen Lacher gut war und im Bett alles für sie machen würde. Aber Abby hatte die Verzweiflung ihrer Mutter gesehen; denn ihre Mutter hatte immer von einem Mann geträumt, der sie liebte und für sie sorgte. Doch Abby hatte schon als Halbwüchsige begriffen, daß eine Frau, die nicht für sich selbst sorgte, nicht erwarten durfte, daß ein anderer das für sie tat. Sie schwor sich, daß sie keine siebenundvierzig Jahr alt werden und noch in diesem Schmutz leben wollte wie ihre Mutter.
Es waren nicht viele hochbezahlte Stellen für Frauen in dieser New Yorker Zeitung ausgeschrieben, und schon gar nicht für unausgebildete, von zu Hause weggelaufene Vierzehnjährige. An ihrem vierten Tag in New York nahm sie dann ihren ganzen Mut zusammen, ging zu einer Bar in Greenwich Village und verlangte den Inhaber zu sprechen, um sich als Cocktail-Serviererin zu bewerben. Der Mann warf nur einen Blick auf sie und sagte nein. Doch Abby, inzwischen der Verzweiflung nahe, denn sie hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen, auf Parkbänken geschlafen und Blasen an den Füßen vom meilenweiten Laufen in diesen billigen hochhackigen Tretern, fing an zu betteln. Betteln war etwas, das sie noch nie zuvor getan hatte, nicht einmal bei den vielen Freunden und kurzlebigen Ehegatten ihrer Mutter - sie hatte sich oft verheiratet, sich jedoch nie darum bemüht, sich vorher scheiden zu lassen -, wenn sie sie mißbraucht oder mißhandelt hatten. Doch nun bettelte Abby diesen Mann um eine Stellung an.
»Wie alt bist du, Kleine?« fragte der Mann, der davon überzeugt war, daß er Kinder hatte, die älter waren als dieses Mädchen.
»Einundzwanzig«, antwortete Abby rasch.
»Ja, und ich bin Rudolf Valentino.« Willie wußte, daß er Schwierigkeiten bekam, wenn er dieses Kind einstellte, daß seiner Meinung nach noch keine fünfzehn Jahre
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