Jennerwein
Rechenschaft ablegen müssen, das merk dir! Mehr Heger als Jäger mußt du sein; ein Herz für das Leben und die Natur muß man haben in unserem Beruf!«
Johann Pföderl biß sich sichtlich am Mundstück seiner Stummelpfeife fest. Scharf, wie erschrocken, musterte ihn der Mayr. Gleich darauf hörte er den neuen Jagdgehilfen zischeln: »Und was ist mit den Wildschützen? Schon im Zug, her von München, haben sie erzählt, daß es mit denen wieder schlimmer geworden ist seit dem Krieg. Darf man auf die auch nicht schießen, auf das Anarchistenpack?«
Der Revierförster schien den letzten Satz überhört zu haben, möglicherweise absichtlich. »So, draußen im Flachland reden sie auch schon davon«, murmelte er. »Ja, ist schon richtig, daß die Freischützen es seit dem 71er Jahr wieder recht bunt treiben. Da wirst du fleißig pirschen müssen, Pföderl, daß du sie abschreckst. Wirst auch am Sonntag und in der Nacht hinaus in den Wald müssen. Wenn sie den Jäger spüren, machen sie sich von selber rar. Versuchen’s dann eher jenseits der Grenze, im Schlierseer Gebiet. Der Kühlechner und der Sieberer dort, die im Staatsdienst stehen, nehmen’s nicht immer so genau. Aber das geht uns nichts an, hier am Tegernsee. Wir sind wittelsbachische Jäger. Gehören in die Untertänigkeit zum Prinzen Karl von Bayern. Müssen bloß schauen, daß es bei uns herüben nicht überhandnimmt!«
»Heißt das, wenn ich hier einen stelle und er haut ab über die Grenze, dann darf ich ihm nicht nach?!« regte sich Johann Pföderl auf.
»Genauso ist’s!« bestätigte der Förster, und jetzt klang seine Stimme auf einmal dienstlich.
»Im Krieg wäre so etwas nicht möglich gewesen!« trotzte der entlassene Korporal. »Da haben wir sie gejagt, bis sie sich die Kugel eingefangen haben! Da haben wir keine Gnade gekannt!«
»Daß wir nicht mehr im Krieg sind, hab’ ich dir vorher schon gesagt!« verwahrte sich der Mayr. »Und jetzt gehst du hinüber ins Nebenhaus, da wirst du den Lechenauer treffen. Das ist dein Kollege – und der Ältere dazu. Hör auf das, was er dir sagt! Das Quartier mußt du dir teilen mit ihm und den Seinen. Morgen dann gehst du zum ersten Mal mit ihm auf die Pirsch. Das grüne Gewand und die Büchse haben der Lechenauer und sein Weib schon hergerichtet für dich.«
So also kam Johann Pföderl zu seiner neuen, bloß noch halbmilitärischen Uniform, und im Verlauf der folgenden Monate dann wechselte er, mehr schlecht als recht freilich, vom soldatischen in den jägerischen Tritt. Daß er sich darüber hinaus unbrauchbar gezeigt hätte, konnten weder der Mayr noch der Lechenauer sagen. Das Tegernseer Umland kannte der neue Gehilfe noch von seiner Holzknechtszeit her. Eine gute Lunge, ein scharfes Auge sowie eine sichere Hand hatte er auch, und als dann der Sommer über den Baumwipfeln und Felsgipfeln zu glasten begann, gestanden ihm zuerst der Lechenauer und bald auch der Förster selbst immer mehr Eigenverantwortung zu; aus dem Neuling wurde allmählich einer, den man auch ohne Aufsicht losziehen lassen konnte.
Darauf allerdings hatte Johann Pföderl bloß spekuliert. In München noch hatte er eine ganze Korporalschaft unter sich gehabt, im Krieg vorher sowieso, und deswegen hatte es ihn während seiner ersten Tegernseer Zeit schon arg gekratzt, daß er nun selbst wieder ein Gegängelter geworden war. Jetzt aber durfte er sich wieder anerkannt, aufgewertet, dekoriert fast fühlen. Ins Mentale grub sich ihm mehr und mehr das Empfinden ein, daß die Steige, die Schonungen, der Hochwald, das Wild dazu ihm allein gehörten, so er nur allein unterwegs war. Daß er Macht über all dies hatte; eine erregendere Macht manchmal noch als damals über seine Münchner Rekruten. Eine Brücke bildete sich ihm im Unterschwelligen aus; ein sirrendes Lichteln vom Revier hinüber und zurück zur Front. Wieder war jetzt das Nervenzittern und Wittern in ihm, das er auch in Frankreich gekannt und genossen hatte, und während der Sommer dieses Jahres 1872 nun allmählich in seine hohe Zeit kam, erlernte Johann Pföderl eine ganz neue Art des Marschierens, des Eroberns und des Inbesitznehmens; eher halb soldatisch nach außen hin, im innersten, heimlichsten Kern jedoch gieriger denn je.
Nicht bloß auf den Steigen, die ihm anbefohlen waren, pirschte er; weiter und weiter zog er seine Kreise, und wie unter einem säbelnden Zwang lockten ihn dabei mehr und mehr die Grenzen zum Schlierseer Gäu, lockte ihn genau das, was nicht mehr zu
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