Jenseits der Alpen - Kriminalroman
schließlich tat er es doch. Er trat zur Seite und tippte auf ihre Durchwahlnummer. Eine Stimme meldete sich.
»Hallo Lola?«
»Nein, hier ist nicht Lola«, kam es zögernd zurück. Ottakring meinte sogar ein kurzes Lachen gehört zu haben. »Frau Herrenhaus ist in einer Konferenz. Ich darf nur eine bestimmte Person durchstellen.«
»Aha«, sagte Ottakring. »Und wer ist das?«
»Das ist naturgemäß vertraulich. Wer sind Sie denn? Sie haben sich nicht mit Namen gemeldet.«
»Ottakring«, knurrte Ottakring. »Joe Ottakring.«
»Ja, dann darf ich Sie durchstellen. Warten Sie.«
Während er wartete, nahm er sich vor, Lola die Kommunikationsqualitäten ihrer Mitarbeiterin verbessern zu helfen. Doch im selben Augenblick verwarf er seinen Ärger wieder. Es ging ihn ja im Grund nichts an.
Es tutete und tutete. Es knisterte im Hörer. Dann war die Sekretärin wieder dran. »Tut mir leid, Herr Ottakring. Frau Herrenhaus ist momentan für niemanden zu sprechen. Auch für Sie nicht.«
Peng! War sie sauer auf ihn? Ein physisches Unbehagen kroch ihm in die Glieder. Er hielt sich den Rücken, steckte das Telefon weg und sah sich um. Schnee, gebückt arbeitende Menschen, Dienstfahrzeuge auf dem Parkplatz, das gleichmäßige Geräusch vorbeiziehender Pkws und Lkws auf der Autobahn. Ab und zu ein Motorrad. Der Hund, der noch immer bellte. Oder war es ein anderer?
Eine undeutliche Erinnerung tauchte in Ottakrings Kopf auf, ohne dass er sie festhalten konnte. Es hatte mit den Autobahngeräuschen zu tun, mit der Autobahn, womöglich mit dem Parkplatz. Auf jeden Fall mit der Toten. Doch er kam nicht drauf.
Der Anruf auf seinem Handy brachte ihn wieder auf andere Gedanken. »Lola«, schrie ihm das Display entgegen.
Sollte er rangehen oder nicht?
Er ging ran.
Als er das kurze Gespräch wieder beendet hatte, musste er sich eingestehen, dass er sich ein zusätzliches Problem eingebrockt hatte.
* * *
Es existierten keinerlei Hinweise auf die Identität der ermordeten Person. Einen Bericht über ihre Verletzungen hatte man jedoch aus der Rechtsmedizin. Ottakring las ihn und musste immer wieder den Kopf schütteln. Die Spitzfindigkeiten der Pathologen darüber, was sich im Inneren eines toten Körpers abspielte, interessierten ihn in der Regel weniger. Er achtete eher auf harte Fakten. Auf die Aussage zum Beispiel, dass die Verletzungen zu hundert Prozent auf Gewalteinwirkung von außen zurückzuführen waren. Somit Mord vorlag.
Die Frau war mit Fäusten im Gesicht, am Kopf, am Hals und Oberkörper schwer misshandelt und ihr waren die Zähne eingeschlagen worden. Daneben hatte sie Hämatome an der linken Hüfte, dem linken Oberschenkel und am Schienbein. Vor ihrem Tod hatte sie Geschlechtsverkehr gehabt. Ob mit dem Täter, war naturgemäß unklar. Sie hatten DNA -Spuren, doch keine Referenz- DNA . Und das Wichtigste: Der Tod war am Neujahrstag zwischen Mitternacht und drei Uhr eingetreten. Sie war mit bloßen Händen erwürgt worden. Die Verletzungen ließen außerordentlich rohe Kräfte erkennen und »sprächen für Hass, Wut oder Vernichtungswillen aus anderen Gründen«, wie es im Obduktionsbericht stand. Dass ein Kampf stattgefunden hatte, wurde nicht bestätigt. Das Opfer habe auch keinerlei Spuren von Fasern, Haaren oder Fleisch unter den Fingernägeln. Dass die Frau »ein südländischer Typus« war, musste gar nichts heißen. Sie konnte in München gelebt haben, in Kopenhagen oder in Palermo. Und die Tat konnte sonst wo verübt worden sein.
Als Ottakring Waller und Agnes gegenübersaß und sich mit ihnen über den Fall unterhielt, wussten alle drei, dass es nur ein Fazit gab.
»Wir kommen keinen Millimeter voran«, sagte Waller. Er rückte die Goldbrille zurecht.«
»Stimmt«, bestätigte Agnes. »Wir wissen nichts mit Sicherheit. Eigentlich nichts außer dem, was offenkundig ist.«
Der Kriminalrat Ottakring nickte. »Wir haben zwei oder drei lose Enden. Aber wir haben keine ordentliche Spur.«
Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber. Wenigstens war der Überfall auf den Juwelier gelöst, und sie hatten die Kreditkartenbetrüger aus Rumänien gefasst. Nichts, worauf Ottakring stolz gewesen wäre. Er tat es als Routineerfolg ab. Der Fall der unbekannten Toten an der Autobahn war eine ganz andere Kategorie.
München, Mitte März 2000
Über zwei Monate später hatte die Kripo in München noch immer nichts, dem sie nachgehen konnte. Absolut nichts.
Zwei Monate, während deren die Unruhe Ottakring keine
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