Jenseits der Augenlider: Garandors Licht (German Edition)

verräterische Reaktion seiner Gegner zu erzielen. Er hörte Schritte, allerdings entfernten diese sich. Bedächtig bewegte er seinen Oberkörper in die Höhe und presste gegen die Schneedecke. Ein schneidender Wind blies ihm ins Gesicht, als seine Augen sich wieder an der eisigen Oberfläche befanden. Zu Waldorans Überraschung erblickte er keinen seiner Widersacher. Verwundert stand er auf und untersuchte die Umgebung.
    Die Fußspuren der Orks gabelten sich und verliefen in einem Kreis um seine ursprüngliche Position. Er schreckte hoch. Jede Faser des schlanken, elfischen Körpers spannte sich bis zum Zerreißen. Die Zeit vereiste, als er sich umdrehte. Das graue Gesicht eines Orks schwebte wenige Fingerbreiten vor seinen feinen Zügen. Die Formung von Gedanken hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Waldoran setzte nun vollkommen auf elfische Instinkte. Eine dreckige Klinge verfehlte seinen Kopf um Haaresbreite, nachdem der Fürst sich in einer rasenden Geschwindigkeit geduckt hatte. Die Zeit taute auf, doch bestand immer noch aus kaltem Wachs, als er sich beinahe träge wieder aufrichtete, um einem weiteren vernichtenden Hieb zu entgehen.
    In der gefühlten Verlangsamung der Zeit schaffte er es, noch einen Gedanken in seinem Kopf heraufzubeschwören; er musste die zweite Bestie finden. Die Zeit kehrte in ihr gewohntes Tempo zurück. Er wehrte die Klinge ab und drehte sich in einer fließenden Bewegung um. Und war sich sicher, dass er sterben würde. Der andere Ork hatte sich aus seinem Versteck gewagt und hatte sich bis auf wenige Schritte herangeschlichen. Obwohl Waldoran über hervorragende Nahkampffähigkeiten verfügte, wusste er, dass der Ork, den er zuerst gesehen hatte, sich in der Bewegung befand, mit einem soeben gezogenen Messer nach Waldoran zu stechen. Seine dünne Lederrüstung besaß einige offene Stellen, weswegen es keine Kunst war, ihn gravierend zu verletzen, oder gar kampfunfähig zu machen.
    Er erwartete den Moment, in dem der kühle Stahl sich durch seine zarte, blasse Haut schneiden würde. Er erwartete den Moment, in dem der Schnee unter ihm sich in ein wunderschönes Burgunderrot verwandeln würde. Er erwartete den Moment, in dem er dafür verantwortlich wurde, den gesamten Osten Santúrs verraten zu haben, bloß damit er ein wenig Spaß mit zwei Gegnern haben konnte.
    Doch dieser Moment kam nicht.
    Gellende Schreie, gefolgt von einem bestialischen Schnaufen, erfüllten die kristallklare Luft. Waldoran sah aus den Augenwinkeln, wie der Stier den Ork mit dem Messer umrannte und in die Schneedecke stampfte. Waldoran blickte rasch zum zweiten Ork, bereit sich ihm zu stellen. Zum Glück des Elfen erstarrte dieser beim Anblick seines toten Kameraden. Der Fürst beobachtete, wie der Ork mit einem betrübten Blick auf den Klumpen aus Blut gaffte, den Stier ignorierend. Waldoran glaubte, ein leises Flüstern zu hören, welches er von den Lippen der verzagenden Kreatur übersetzte.
    „ Addor.“ Das musste der Name des Orks sein, vermutete Waldoran. Dann ging es blitzschnell. Waldoran entwaffnete sein Gegenüber mit ein paar flinken Handbewegungen und schnürte Arme und Beine zusammen. Als er fertig war, blickte er zum Stier, der mittlerweile vom Kadaver des toten Orks abgelassen hatte, als dem Elfen etwas Unheimliches auffiel. Die Augen des vierbeinigen Geschöpfs waren menschlich.
    „ Wie lautet dein Name, Stier?“ Waldoran hatte zwar nie zuvor etwas von einem sprechenden Telénastier gehört, doch diese Augen betrogen seine Sinne.
    „ Ich heiße Chorz.“ Der Stier besaß eine raue Stimme, welche ohne Zweifel seit zahllosen Wintern nicht mit der Luft in Berührung gekommen war.
    „ Danke, Chorz. Du hast mir das Leben gerettet, obgleich wir Feinde sind.“ Waldoran spannte seinen Bogen und richtete ihn auf das Wesen.
    „ Nein. Wir sind keine Gegner. Ein Zauber ließ mich sprechen und denken. Ich weiß, dass Latenor Unrecht begeht. Ich möchte dem Osten dienen, Elf.“ Die emotionslosen, elfischen Augen ruhten Monde-lang auf denen des Stiers.
    „ Du solltest den anderen Stieren zur Seite stehen.“ antwortete er schließlich.
    „ Ich bin hin- und hergerissen. Auf der einen Seite war dieser Zauber auch ein Fluch. Nun, da ich in der Lage dazu bin, mich zu unterhalten, möchte ich diese Gabe nutzen. Es ist furchtbar, der einzige sprechende, der einzige denkende Stier zu sein.“ Betrübt senkte die enorme Kreatur ihr Haupt, als Waldoran nach einer weiteren Pause antwortete.
    „ Ich heiße