Jenseits der Eisenberge (German Edition)
abhängig, warum also Onurs König eine solch geringe Bitte abschlagen, wenn sie vorteilhaft für sie beide war?
Kumien hatte nicht gezögert, Kirian in die Minen zu schicken, auch wenn er den Sinn nicht ganz verstand, einem Mann, dem das Gedächtnis geraubt worden war, noch irgendeine Bedeutung beizumessen. Lys hingegen hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert.
Obwohl er so geschwächt war vom Kampf, der aufrichtigen Trauer um seine Gefährten und den langen Stunden des Schmerzes unter der Obhut der Wächter, hatte er so überzeugend seine wahre Herkunft verleugnen können – Kumien hätte ihm geglaubt, hätte er es nicht besser gewusst. Es war ungemein reizvoll gewesen, Lys über Tage und Wochen hinweg immer wieder aus der Reserve zu locken, ihn dazu zu zwingen, sich durch Wissen, Können oder Scharfsinn selbst zu verraten. Sich an seinem Erschrecken zu weiden, wenn es ihm bewusst wurde, die inneren Kämpfe an seiner Körpersprache abzulesen, wenn Lys schweigen oder stillhalten wollte und es einfach nicht konnte. Sich nach und nach sein Vertrauen zu erschleichen, seinen Widerstand brechen …
Und nun musste Kumien sich eingestehen, dass er selbst in die Falle getreten war. Er war so sicher gewesen, dass Lys sich ihm gänzlich unterwerfen würde! Stattdessen hatte er sein Herz an ihn verloren. Am Anfang hatte er geplant, Lys irgendwann das Medaillon zu schenken, ihm so zu zeigen, dass er stets gewusst hatte, wer er wirklich war. Diesen Kirian, für dessen Tod er zwischendurch schon gesorgt hätte, wollte er in allen Belangen ersetzen – er war der Layn, wie wollte ein Geächteter, ein Mann ohne Erinnerung dazu, ihn übertrumpfen? Zu spät war ihm klar geworden, wie sehr Lys ihn beeinflusste. Wie er, Kumien, nachsichtiger zu seinen Sklaven und Dienern wurde, nicht, weil Lys es mit nur einer Silbe verlangte, sondern weil er ihm dafür ein Lächeln schenkte. Wie er, Kumien, sich Gedanken um Gerechtigkeit und das Schicksal Einzelner machte, wo er früher das Wohlergehen aller als wichtiger angesehen hatte. Die Angelegenheit mit Shenia hätte übel ausgehen können, wäre Feron hartherziger gewesen …
Lys hatte ihm gezeigt, dass er ihn durchschaute. Dass er sein, Kumiens Herz, besser kannte als irgendjemand sonst.
Ich hätte dich vernichtet, ohne es zu wollen … Ich liebe dich, wenn es so etwas wie Liebe überhaupt gibt!
Kumien stand auf und schlich sich dann zur Tür. Wie erhofft fand er Maggarn wach in seiner Kammer vor, auch wenn er zu dieser frühen Stunde noch im Bett lag. Jeder wusste, dass der Diener ihm nahe stand, praktisch sein einziger Vertrauter war. Dass es sich bei Maggarn um seinen ältesten Halbbruder und wichtigsten Berater handelte, wusste mittlerweile niemand mehr, außer ihnen beiden. Ein Bastard, der sich freiwillig dazu entschieden hatte, ihm, Kumien, als Kammerdiener zur Seite zu stehen. Eine Position, in der er dem gesamten Haushalt vorstand und dadurch zumindest innerhalb des Palastes genauso viel, wenn nicht mehr Macht besaß als der Layn persönlich. Jedes Gerücht, jedes Geflüster landete unweigerlich bei ihm. Maggarn war ihm treu ergeben, absolut loyal. Seit Kumiens Geburt lebte er nur dafür, ihm zu dienen. Er wusste, sollte Maggarn ihm jemals die Treue brechen, wäre das sein sofortiger Untergang, denn es gab nichts, was sein Bruder nicht über ihn und sämtliche Vorgänge in diesem Land wusste.
„Du siehst grässlich aus“, brummte Maggarn, nachdem sie sich eine volle Minute lang angestarrt hatten. Stumm hielt Kumien ihm den Befehl hin, der Lys’ Schicksal besiegeln würde.
Maggarn las es unbewegt, musterte ihn dann nachdenklich.
„Du bist sicher, dass du das willst?“, fragte er leise.
„Nein. Ich bin mir sehr sicher, dass es genau das ist, was ich am wenigsten will.“ Kumien sank auf einen Stuhl neben Maggarns Bett nieder. Die Worte stürzten aus ihm heraus, er erzählte alles, was er heute Nacht gedacht, gesagt und getan hatte, ohne sich selbst zu schonen.
„Es ist unrecht“, endete er.
„Ja, das ist es. Und es ist keineswegs zum Besten für einen von euch beiden.“ Maggarn hatte sich mittlerweile gewaschen und angezogen und begann sich nun zu rasieren.
„Es ist das Schlimmste, was ich ihm antun kann. Maggarn, sag mir, dass ich es nicht tue, um ihn dafür zu bestrafen, dass er mich zurückgewiesen hat“, flehte Kumien mit so viel hilfloser Verzweiflung, dass sein Bruder sich erstaunt zu ihm umwandte.
„Wenn du das hören willst, solltest du dir einen
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