Jenseits Der Schatten
bevor die Enthüllung einen Feuersturm von Bemerkungen entfachen konnte, hob er einen Finger.
Aus der Menge erhob sich die Stimme einer Frau in einem hohen, klaren Ton, den sie unmöglich lange hielt, bevor er in einen klagenden Lauf und dann in Worte überging, die von ihrer Einsamkeit sprachen. Aller Augen wandten sich einer Sopranistin mit weitem Brustkorb und elfenbeinfarbenem Kleid zu, die niemand kannte. Während sie sang, stolzierte sie durch die Menge, bis sie sich zu Quoglee auf sein Podest gesellte. Seine Stimme vermischte sich mit ihrer, sie überkreuzten und verwoben ihre Melodien - Liebende, die von Liebe und verweigerter Liebe sangen.
In den Ecken des Raums spielten die Instrumente - helle Violen, ein kraftvoller Bass und eine Harfe - gegen die Stimmen an, und durch die Magie der Musik stach ein jedes klar hervor. Was die Worte nicht erklärten, machte die Musik deutlich. Die leidenschaftliche Liebe einer Schwester, die Verwirrung des Bruders, der Aufruhr der Jugend, die gesellschaftliche Ächtung, die Geheimnisse der Schlafgemächer eines noblen Hauses. Eine trotzige Frau, leidenschaftlich, die nicht duldete, dass sich ihr etwas in den Weg stellte.
Obwohl er sie nicht beim Namen nannte, hatte Quoglee sich keine Mühe gegeben, die Gegenstände seines Liedes zu verbergen, doch wie immer begriffen einige Edelleute früher als andere. Jene, die verstanden, konnten nicht glauben, was sie da hörten. Sie suchten den Raum nach Wachen ab, davon überzeugt, dass irgendjemand diesem herrlichen Frevel Einhalt gebieten müsse. Aber kein Wachmann war auf seinem Posten. Die Sa’kagé hatten diesen Abend gewählt, um ihre Macht zu enthüllen. Auf keinen Fall konnte dies ein Versehen sein. Dieser Raum, in dem sich
zweihundert Mitglieder der Elite des Königreichs befanden - es wurden immer mehr, während die Neugierigen herbeikamen, um zu sehen, was alle derart in Bann geschlagen hatte -, wurde normalerweise von mindestens einem Dutzend Mitgliedern der königlichen Garde geschützt. Quoglee sang von Verrat, und niemand gebot ihm Einhalt. Die Schönheit der Musik und die Verführungskraft eines Gerüchtes hielten die Edelleute gefangen. Es war Quoglees Meisterwerk. Niemand hatte je solche Musik gehört. Die Streichinstrumente wetteiferten miteinander, und die verbotene Liebe wetteiferte mit sich selbst, die Musik, die dieser verzerrten Liebe das Recht jeder Liebe gab, selbst wenn der Junge gegen sein Gewissen verführt wurde und die Frau ihre Rechte als Geliebte forderte.
Dann, als sie in Harmonie miteinander sangen, nachdem sie den Waffenstillstand erklärt hatten und sich einer verbotenen Liebe hingaben, die geheim bleiben musste, war plötzlich eine neue Stimme zu hören. Eine junge Frau, ein Sopran, schlank, in einem schlichten, weißen Kleid, gesellte sich zu Quoglee und dem Mezzosopran und sang mit solcher Reinheit, dass die Klänge das Herz zerrissen. In ihrer Unschuld stolperte sie über ein Geheimnis, das den Ruin eines königlichen Hauses bedeuten würde.
Der Bruder erfuhr es nie. Die ältere Schwester sah alles, was sie hatte, alles, was sie begehrte, bedroht von ihrer eigenen Schwester, und in ihrem zerrissenen Herzen brütete sie einen verzweifelten Plan aus.
Unbemerkt von den verzückten Edelleuten war ein junger Mann in den Raum getreten, nur Sekunden, nachdem die ersten Klänge laut geworden waren. Luc Graesin machte keine Anstalten, Quoglee Mars zum Schweigen zu bringen. Aus dem hinteren Teil des Raums hörte er wie gebannt zu.
Die Stimme von Natassa Graesin wurde leiser, verraten von
ihrem eigenen Blut, ermordet. Sie wehklagte, ihre Stimme misstönend, dem Nichts entgegenklingend, ihr Leben ein Opfer für eine Perversion.
»Neiiin!«, schrie Luc Graesin.
Endlich brachen die Musikanten ab, die letzten Töne klangen nach im Entsetzen. Luc stürzte durch die Türen und floh. Niemand folgte ihm.
47
Als er Graf Drake sah, schlüpfte Kylar durch Königin Graesins Gefolge, aber ausnahmsweise einmal ließ ihn die beiläufige Unsichtbarkeit der Gewöhnlichkeit im Stich. Eine Frau berührte ihn am Ellbogen. Als er sich umdrehte, schaute er in Terah Graesins Augen. Diese dunkelgrünen Graesin-Augen waren atemberaubend, vor allem da Kylar unwillkürlich tiefer hineinblickte.
An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, anderen Eltern geboren, wären Terah Graesins böse Ränke bedeutungslos gewesen, denn sie war lediglich augenfällig selbstsüchtig. Sie hatte Begierden, und andere existierten, um
Weitere Kostenlose Bücher