Jenseits Der Schatten
Mutter war brillant. Mein Vater fürchtete sie, und
er versuchte, sie herabzusetzen, damit sie nicht mächtiger wurde als er selbst. Sie wusste es und ließ es zu, weil sie kein Interesse daran hatte, sich der Politik zuzuwenden. Die Politik war zu roh, zu schmutzig, zu brutal für sie. Mein Vater machte als Herrscher tausend Fehler, aber der Fehler meiner Mutter war vielleicht größer, weil sie sich dafür entschieden hatte, nicht zu herrschen. Deswegen habe ich den Mann verloren, den ich liebe, einen Mann, der einen großen König abgegeben hätte. Also werde ich mich nicht abwenden, weil das Herrschen ein schmutziges Geschäft ist. Mein Volk verdient Besseres von mir. Noch werde ich mich mit der sanften Heuchelei begnügen, Euch zu kritisieren, während Ihr Gefahren gegenübersteht, die ich mir kaum vorstellen kann.«
»Ich will nicht einfach deswegen herrschen, weil ich Gefallen an Macht habe. Wenn man es deshalb tut, dann ist es vergebens. Ich will alles wiedergutmachen, was mein Vater und seine Väter diesem Land angetan haben. Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage bin. Ich weiß nicht, ob es getan werden kann.«
Ein düsterer Ausdruck huschte kurz über ihre Züge, und sie blieb einige Sekunden lang still. Dorian wartete. Schließlich sagte sie: »Mein Herr, ich erlebe Euch im Allgemeinen so entschlossen, so stark, und im nächsten Augenblick seid Ihr hier und entschuldigt Euch bei mir für etwas, das Ihr tun musstet. Vielleicht hättet Ihr es anders machen können, aber wen schert das? Es bestand eine unmittelbare Bedrohung, und Ihr habt Euch darum gekümmert. Ich versuche Euch zu sagen, dass Ihr für mich nicht schwach zu sein braucht. Ich habe in meinem Leben genug schwache Männer gesehen. Ich schätze, meine Frage lautet - und es ist wahrscheinlich die gleiche Frage, die Euer Volk hat -, werdet Ihr König sein, oder versucht Ihr lediglich, am Leben zu bleiben, bis Ihr davonlaufen könnt?«
Ihre Worte trafen. Er hatte nicht ein einziges Mal daran
gedacht, als Gottkönig alt zu werden. War der Grund dafür, dass er sich nicht einmal an ein Bruchstück einer Prophezeiung erinnern konnte, in der er ein alter Gottkönig war, oder hatte er Angst gehabt, sich auf Gedeih und Verderb auf dieses Land einzulassen? Er hatte nicht einmal darüber nachgedacht, wie die Dinge in einem Jahr sein würden. Indem er so kurzfristig gedacht hatte, hatte er Probleme ignoriert. Er hatte nichts getan, um die Hochlandstämme an sich zu binden. Er hatte nichts gegen Neph unternommen. Er hatte nichts gegen die Edelinge unternommen. Wenn Jenine sein Zögern als Schwäche sah, wie viele andere taten es dann auch?
»Ich bin König«, erklärte Dorian. »Und ich werde es bis zum Ende meines Lebens bleiben, wie lange das auch immer sein mag.«
»Dann herrscht, wie Ihr es tun müsst, um König zu sein.«
»Habt Ihr eine Ahnung, was das bedeutet? Hier, bei diesem Volk?«, fragte Dorian.
»Nein«, gestand sie. »Aber ich vertraue Euch.«
Dorian hatte Jenine für naiv gehalten. Aber er hatte sich geirrt. Jenine war unerfahren. Das war ein großer Unterschied. Und die Lehren der Erfahrung würden sie vielleicht immer noch entsetzen, aber ihre Augen waren offen. Natürlich besaß sie auch kein Übermaß an Mitgefühl für das Volk, das ihren Vater und ihre ganze Familie getötet hatte. Aber ein Monarch musste hart sein, nicht wahr?
Während Jenine sich erhob, um weitere Vorbereitungen für ihre Hochzeit zu treffen, griff Dorian, abgelenkt von seinen eigenen Gedanken, mit seinem Talent aus, um die Sternblume mit einem kleinen Zauber zu belegen, damit sie nicht verwelkte. Es war ein simpler Zauber, und mit ihm hätte selbst die zarteste Blume sich einen Monat lang gehalten. Aber Dorian hatte nicht daran gedacht, wie viele Vir für die Aufzucht der Pflanze
gebraucht worden waren. Vir und südliche Magie trafen aufeinander, bekriegten sich, und die Blume wurde in Jenines Händen schwarz und schlaff.
Dorian fluchte. »Es tut mir leid, Hoheit. Ihr habt mir viel zum Nachdenken gegeben. Ihr seid weise über Eure Jahre hinaus. Ich danke Euch.« Er pflückte eine weitere Sternblume und hüllte sie für Jenine in Vir. Sie würde sich einige Tage halten, und dann würde er einfach eine andere pflücken.
Die königlichen Wachen ließen Kylar passieren. Ilena Drake stand mit vor der Brust verschränkten Armen in der Nähe der Tür. »Es tut mir leid«, sagte Kylar zu ihr.
»Wie konntest du Elena das antun?«, fragte sie.
Wie in einem
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