Jenseits Der Unschuld
Sofie vermied es, seinem Blick zu begegnen, spurte aber, wie er sie beobachtete. jeder wusste, dass Sofie nicht der Vorstellung eines Bohemiens entsprach. Ihre Malweise war zwar kühn und eigenständig und setzte sich über alle akademischen Gebote hinweg, doch im Leben hielt Sofie sich strikt an die Regeln bürgerlicher Wohlanständigkeit, in denen sie erzogen war.
Manchmal kam Sofie sich wie eine Schwindlerin vor. Gelegentlich wünschte sie, so wie Rachelle und die anderen leben zu können, sorglos in den Tag hinein, voller Lebensfreude und Genuss, nach dem französischen Lebensprinzip der joie de vivre. Doch so sehr sie sich darum bemühte, sie war nicht dafür geschaffen.
»Willst du dich nicht zu uns setzen?« fragte Georges mit ernstem Gesicht. Zu allen anderen war er charmant hatte immer einen Scherz auf den Lippen, nur nicht bei ihr. Georges war ein begabter Dichter, der seine radikalen Ideen mit spitzer Feder und geschliffenen Reimen zu Papier brachte.
Sofie nickte und setzte sich zu ihm und Rachelle und seinen Freunden Picasso und Braque an den Tisch. Paul zog sich einen Stuhl heran.
Kaum hatte Sofie Platz genommen, als die Männer lauthals zu singen begannen, selbst der eher verschlossene und melancholische Braque stimmte in das Ständchen >Happy Birthday< mit ein, und Sofie errötete bis unter die Haarwurzeln. Heute war tatsächlich ihr Geburtstag, den sie wohlweislich verschwiegen hatte, da ihr nicht nach Feiern zumute war. Doch Paul kannte das Datum. Er drückte ihr die Hand und sang aus vollem Halse mit. Fred, der Wirt, drängte sich durch die Gästeschar und trug einen mit brennenden Kerzen bestückten Kuchen vor sich her.
Seine Bäckchen glänzten rosiger als sonst. Das Ständchen war zu Ende, Fred stellte den Kuchen vor Sofie hin, alle gratulierten, und Rachelle schlang die Arme um sie und küsste sie auf beide Wangen.
Sofie hatte Mühe, ihre Rührung zu verbergen. Wie aufmerksam und liebevoll ihre Freunde waren. Sie hatte nicht den geringsten Grund, traurig zu sein. Nein, Sofie hatte ein neues Leben begonnen, hatte neue Freunde gefunden, sie ging ganz in ihrer Kunst auf, und bald bekam sie ih r Baby. Was wollte sie eigentlich mehr? Tapfer blinzelte sie die Tränen zurück und lächelte. »Merci beaucoup, mes amis. Mes chers amis.«
Rachelle hatte sich ans Klavier gesetzt und begann auf das arg strapazierte, altersschwache Instrument einzuhämmern, das jeden Abend herhalten musste. Sie klimperte einen munteren Musettewalzer und schlug den Takt mit ihren derben Stiefeln dazu. Schon begannen einige Paare zu tanzen. Da ein akuter Mangel an Damen herrschte, drehten sich auch Männer paarweise im Kreis. Georges beugte sich über den Tisch und griff nach Sofies Hand.
Sie erschrak. Seine Augen waren blau wie Edwards Augen. Doch nun funkelte ein Leuchten darin, das ihr nie zuvor aufgefallen war.
»Tanz mit mir.«
Sofie rührte sich nicht. Georges glühender Blick senkte sich in ihre Augen. Sie schüttelte den Kopf, ihr Puls beschleunigte sich. Was war eigentlich los? Georges war in Rachelle verliebt. »Nein danke, Georges«, stammelte Sofie.
Er war aufgestanden und beugte sich über sie. »Warum nicht?«
Ihre Augen brannten. Sie schüttelte wieder den Kopf. Auf ihre Behinderung konnte sie sich nicht hinausreden, er würde sie nicht gelten lassen. Niemand auf dem Montmartre kümmerte sich darum, dass sie hinkte. Sie konnte ihm auch nicht sagen, dass sie nicht tanzen gelernt hatte. Vielleicht würde er anbieten, es ihr beizubringen.
»Das Kind nimmt keinen Schaden.«
Sofie hob rasch die Lider. Um sie herum tanzten die Gäste immer fröhlicher und ausgelassener. Rachelle sang jetzt mit klarer Altstimme. Sofie sah zu ihr hinüber, um Georges eindringlichem Blick zu entgehen.
Georges nahm ihr Kinn, drehte ihr Gesicht und zwang sie, ihn anzusehen. »Möchtest du lieber spazieren gehen?«
Sofies Verwirrung wuchs. Das musste ein Irrtum sein.
Georges war mit ihr befreundet, weiter nichts. Er wollte nett zu ihr sein, weil sie Geburtstag hatte. Doch in seinem Blick lag nicht die Spur von Nettigkeit. Sie sah nur Hitze und männlichen Zorn. »Eigentlich nicht«, antwortete sie beinahe verzweifelt.
Seine Augen verdunkelten sich. »Warum nicht?«
Sofie antwortete mit einer Gegenfrage. »Was tust du da?«
Georges zog sie auf die Füße. Sofie war steif wie ein Brett. »Du vergehst fast vor Gram wegen ihm, stimmt's? Du vergehst vor Sehnsucht nach dem Kerl, den du ständig malst! Ich bin weder dumm noch
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