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Jenseits Der Unschuld

Jenseits Der Unschuld

Titel: Jenseits Der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
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Künstlerin Ihres Ranges fortzusetzen, Madame.«
    Mary fuhr herum und blickte Vollard eindringlich an. »Tatsächlich?«
    »Behauptet jedenfalls Paul Verault.«
    »Ich möchte sie kennenlernen«, sagte Mary Cassatt unvermittelt.
    »Ich arrangiere ein Treffen. Sie wird begeistert sein.«
    Mary Cassatt lächelte. »Sie wird noch mehr begeistert sein, wenn Sie ihr sagen, dass ich das Bild des attraktiven jungen Mannes im Delmonico kaufe«, versetzte sie.
    Liebe Louisine!
    Heute habe ich ein Bild entdeckt, das mich berührt hat wie selten ein Bild zuvor. Die Malerin ist eine junge Amerikanerin namens Sofie O'Neil. Ich habe das Ölbild mit dem Titel Delmonico's spontan gekauft. Es stellt einen jungen Mann mit einer ungewöhnlichen Ausstrahlung dar, ein Sinnbild männlicher Erotik und Nonchalance. Ihre leuchtenden Farben sind verblüffend, ihr Pinselstrich leidenschaftlich, geradezu verwegen. Ihre Detailbesessenheit in der Ausführung der dargestellten Person ist bewundernswert. Ich bin ziemlich sicher, dass die Künstlerin eine große Karriere vor sich hat, wenn sie ihren endgültigen Stil gefunden hat. Irgendwann werden ihre Frühwerke einen hohen Sammlerwert besitzen. Noch nie habe ich Ihnen den Kauf eines jungen Künstlers so sehr ans Herz gelegt. Den Namen Sofie O'Neil sollten Sie sich merken. In Liebe und Verehrung, Ihre Mary Cassatt.
    Sofie drückte das Kopfkissen an sich und weinte wie ein Kind. Sie konnte sich noch so oft einreden, sie weine nur wegen ihrer schwachen Nerven, weil die Geburt des Kindes in sechs Wochen bevorstand. Doch Sofie war eine schlechte Lügnerin, auch wenn es galt, sich selbst etwas vorzumachen. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Sie wollte nicht allein sein, nicht jetzt, nicht sechs Wochen vor der Entbindung und nicht ihr ganzes Leben.
    Georges' dunkles, ernstes Gesicht kam ihr in den Sinn. Und danach Edwards Gesicht. Wenn sie Edward nur vergessen könnte. Nur dann wäre sie frei, um Liebe bei einem anderen Mann zu finden. Nur dann könnte sie Georges lieben.
    Welche Ironie! Sie hatte sich nie nach Liebe gesehnt. In ihren Jungmädchenjahren hatte sie sich alle törichten und romantischen Träume versagt. Sie wollte ihr Leben ganz der Malerei widmen. Doch dann war Edward in ihr Leben getreten mit seinem betörenden Charme, seiner Ritterlichkeit, seinen heißen Küssen, seiner Männlichkeit und hatte ihre vergessenen Jungmädchenträume zu neuem Leben erweckt. Nachdem ihre Tränen allmählich versiegt waren, kroch Sofie aus dem Bett, kramte ihr Schreibzeug hervor und kuschelte sich in den alten, verschlissenen Lehnstuhl.
    Ein Buch diente ihr als Schreibunterlage. So saß sie lange, kaute am Stiel des Federhalters und suchte nach Worten, um Edward mitzuteilen, dass er demnächst Vater wurde. Sie durfte nicht länger damit warten. Er musste es wissen.
    Aber sie musste ihren Brief heiter und unbeschwert verfassen. Sie durfte ihm um keinen Preis Einblick in ihr blutendes Herz gewähren. Sofie begann zu schreiben.
    Paris, den 5. Mai 1902
    Lieber Edward!
    Es sind viele Monate vergangen, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Ohne Zweifel trifft mich die Schuld daran, und ich entschuldige mich dafür. Der Entschluss, nach Paris zu gehen, war ein wichtiger Schritt für mich. Ich musste eine Wohnung mieten und ein Atelier, einen Lehrer finden und eine geeignete Gesellschafterin. Das hat alles Zeit in Anspruch genommen. Doch nun läuft alles seinen gewohnten Gang. Ich habe in Paris viele Freunde gefunden, dazu meine wunderbare Freundin Rachelle, und mein Kunstlehrer Paul Verault aus New York ist auch mein Mentor in Paris. Ich studiere bei dem großen Gerard Leon, der mit meinen Arbeiten zufrieden zu sein scheint.
    Noch erfreulicher ist die Tatsache, dass zwei konkurrierende Kunsthändler sich um mich bemühen. Paul Durand-Ruel kennst du. Er ließ durchblicken, dass er mir eine Einzelausstellung ermöglichen könnte - der Traum eines jeden Künstlers. Der zweite, Andre Vollard, hat große Maler wie Van Gogh und Gauguin bereits vertreten, als niemand sonst sich für ihre Bilder interessierte. Falls du es noch nicht weißt, dein Porträt hat in New York einen Käufer gefunden, ebenso die Porträts meines Vaters und meiner Schwester Lisa.
    Nun komme ich zum eigentlichen Grund meines Briefes. Ich hoffe, dir damit keinen allzu großen Schrecken einzujagen. Ende Juni erwarte ich ein Kind. Ich dachte, du solltest es wissen.

    In der Hoff-nung, dass du wohlauf und guter Dinge bist, verbleibe ich

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