Jenseits Der Unschuld
Gewittersturm ankündigte.
Rachelle war noch nicht zurückgekommen. Sofie nahm die Tuschfeder und tauchte sie ein. Ihre Hand bewegte sich wie von selbst. Sie zeichnete Edward, rasch, flüchtig, die Konturen seines Kopfes, Hals und Schultern. Sie skizzierte seine kraftvolle Figur und führte die Gesichtszüge detailliert aus. Dann ließ sie die Feder sinken.
Sie liebte ihn mehr denn je, und ihre Liebe schmerzte mehr denn je.
Sofie betrachtete die flüchtige Skizze. Während der Atlantiküberfahrt hatte sie einige Zeichnungen angefertigt, die ihr misslungen schienen und die sie zerrissen hatte. Wirklich gearbeitet hatte sie nicht mehr, seit Edward überraschend im Zut aufgetaucht war, als sie mit ihren Freunden die Einzelausstellung feierte, die Paul Durand-Ruel für sie in New York plante.
Was war schon dabei, wenn sie ihn jetzt zeichnete? Bald war sie mit ihm verheiratet. Dann konnte sie ihn sogar bitten, ihr Modell zu sitzen. Bei dem
Gedanken begann Sofies Herz zu flattern.
Sie sehnte sich danach, sich wieder in der Passion ihrer Malerei zu verlieren.
Entschlossen nahm Sofie die Feder wieder zur Hand und begann ihn erneut zu zeichnen, so wie sie ihn von gestern abend in Erinnerung hatte. Ihr Strich war nun kühner, entschlossener, sicherer. Sie nahm sich vor, wieder ein Ölbild von ihm zu malen. Wenn sie sich auf ihre Malerei konzentrierte, würde sie ihren Kummer vielleicht bald vergessen.
Sowohl Vollard als auch Durand-Ruel hatten die Porträts von Edward von all ihren Arbeiten am besten gefallen. In zwei Wochen war die Ausstellung. Ihre bisherigen Bilder von Edward waren in kürzester Zeit entstanden; sie hatte daran wie besessen und fast ohne Unterbrechung gearbeitet. Wenn ihr ein ähnlich gutes Bild gelang wie die übrigen, würde Jacques Durand-Ruel begeistert sein.
Mit wenigen Strichen skizzierte sie seinen sehnigen, kraftvollen Körper. Edward lehnte in der Zeichnung an einer Wand, wirkte jedoch angespannt wie auf dem Sprung. Ebenso angespannt, wie sie selbst sich fühlte. Wie sollte sie das alles bloß durchstehen?
Seufzend legte Sofie die Feder beiseite und betrachtete die Zeichnung. So hatte sie ihn auf Lisas Verlobungsball gesehen. Elegant und umwerfend männlich. Das war gestern abend gewesen. Gestern abend hatte sie ihn nach ihrer Flucht aus Paris wiedergesehen. Und heute hatte er ihr seinen Verlobungsring angesteckt.
Sofie versuchte sich einzureden, dass dies die beste Lösung sei. Für Edana war es die beste Lösung, daran gab es keinen Zweifel. Edana würde mit einem liebevollen Vater aufwachsen. Sofie dachte wehmütig daran, wie sehr ihr Vater sie geliebt hatte, ehe er gezwungen war, New York zu verlassen. Sie erinnerte sich lebhaft an die Jahre ihrer Kindheit, in denen sie sich sehnlichst gewünscht hatte, ihr Vater wäre noch am Leben, in denen sie sich danach verzehrt hatte, auch einen liebevollen Vater zu haben wie andere Kinder.
Sofie nahm sich fest vor, an Edanas Beziehung zu Edward zu denken, wenn Panik sie beim Gedanken an die bevorstehende Ehe zu übermannen drohte.
Plötzlich dachte sie an Henry Marten. Sie war so sehr mit ihrem Gefühlsaufruhr beschäftigt gewesen, dass sie keinen einzigen Gedanken an ihn verschwendet hatte. Henry liebte sie und wartete auf ihre Antwort. So sehr Sofie es bedauerte, ihm weh tun zu müssen, es ließ sich nicht vermeiden.
Sie durfte nicht länger warten. Morgen wollte sie ihn aufsuchen und ihm ihre Verlobung mit Edward Delanza mitteilen.
Sofie verbarg die Hände im Schoss, damit er ihren Verlobungsring nicht sah. Henry blickte ihr forschend ins Gesicht. »Du lieber Himmel, Sofie! Sind Sie krank? Hat er Ihnen weh getan?«
Sofie schluckte. »Nein.«
»Wie ich hörte, haben Sie den Ball mit ihm verlassen. Vermutlich hat er Sie dazu gezwungen. Er hat Sie doch dazu gezwungen, oder?«
Sofie nickte. »Edward bestand darauf, Edana noch am gleichen Abend zu sehen.«
Henrys Gesichtsmuskeln spannten sich an. »Bestand er auch darauf, dass Sie seine Suite im Savoy beziehen?«
Sofie erbleichte. »Neuigkeiten verbreiten sich schnell, wie ich sehe.«
»ja.«
»Er bestand darauf, dass ich seine Suite nehme, da keine andere mehr frei war.« Sie straffte die Schultern und sah Henry tapfer ins Gesicht. »Ich habe ihm mein Jawort gegeben, Henry.«
»O Gott. Ich hab's gewusst!« rief Henry in heller Verzweiflung.
Sofie berührte ihn am Arm. »Bitte, Henry. Es tut mir leid.«
Henry seufzte tief. Dann blickte er ihr forschend in die Augen. »Sie lieben
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