Jenseits Der Unschuld
ihn, habe ich recht? Sie haben ihn immer geliebt. Vom ersten Augenblick an, als er im Sommerhaus Ihrer Eltern in Newport auftauchte.«
»Ja.«
Henry senkte den Kopf. »Ich glaube, er liebt Sie auch.«
Sofie fuhr zusammen. Nein. Sie wusste es besser. Sie wusste, dass er sie nicht liebte. Und dennoch keimte Hoffnung in ihr auf. Wenn es nur wahr wäre!
Am Tag vor der Eröffnung der Ausstellung wurde Sofie krank. Der Gedanke, sich einem Publikum und der Kritik zu stellen, hatte ihr immer Furcht eingeflößt, doch als die Vernissage noch in weiter Ferne lag, konnte sie ihre Ängste von sich schieben. Nun verstärkte diese Angst sich durch die Tatsache, dass Edward und sie einen Tag danach vor den Standesbeamten treten und heiraten würden. Ihr Magen rebellierte, ihr war so übel, dass sie die Scheibe Toast wieder von sich gab, die sie lustlos, zum Frühstück gegessen hatte, und sich den ganzen Tag elend und schwach fühlte.
Henry täuschte sich. Edward liebte sie nicht, er hatte sie nie geliebt. Die Vorstellung war absurd.
Edward benutzte weiterhin ungeniert seinen Schlüssel, um die Suite zu betreten, wenn er Edana mehrmals am Tag besuchte. Sofie begegnete er mit ausgesuchter Höflichkeit. Die Spannung, die sie in dem neuen Ölbild von ihm einzufangen versuchte, an dem sie heimlich arbeitete, war deutlich zu spüren. Sobald Edward die Suite betrat, veränderte sich die Atmosphäre, wurde spannungsgeladen; er erschien Sofie wie ein lauerndes Ungeheuer, das jeden Augenblick drohte Flammen zu speien.
Sofie bemühte sich um Gelassenheit in seiner Gegenwart und gab vor, seine Blicke nicht zu bemerken, mit denen er sie musterte, als sei sie eine Delikatesse, die er gerne verspeisen würde. Wenn er ihr den Rücken zuwandte, sah sie ihn mit ähnlich hungrigem Blick an. Sie hatte sich ihrer Lust nie geschämt und wollte sich auch jetzt nicht dafür schämen. Aber vor ihm musste sie ihre Gefühle verbergen.
Sofie ging zu Fuß die Fifth Avenue entlang zur Galerie, wo sie mit Jacques Durand-Ruel einen letzten Blick auf die Ausstellung werfen wollte, ehe sie morgen für die Öffentlichkeit freigegeben wurde. Mittlerweile bereute sie, den Hochzeitstermin auf den darauffolgenden Tag festgelegt zu haben. Ihre erste Einzelausstellung sollte der wichtigste Tag in ihrem Leben sein. Doch nun wurde das Ereignis durch eine Heirat ohne Liebe überschattet und in den Hintergrund gedrängt, eine Heirat mit einem Mann, der sich verpflichtet fühlte, ihrer Tochter seinen Namen zu geben.
Jacques, der sie bereits erwartete, kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen, als sie die Galerie betrat. »Liebste Sofie«, rief er und umarmte und küsste sie auf beide Wangen. »Ma chere, Sie sehen blaß aus. Vermutlich haben Sie Lampenfieber.«
»Ich sterbe vor Angst«, gestand Sofie offen.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, versuchte Jacques sie zu beschwichtigen. »In der Regel sind die hiesigen Kritiker wohlmeinender als in Paris. Wir haben zudem Reklame damit gemacht, dass Sie lange in Frankreich lebten; das kommt beim amerikanischen Publikum und bei den Kritikern sehr gut an. Ich habe das Gefühl, liebste Sofie, der morgige Tag wird all unsere Erwartungen übertreffen.«
»Ich hoffe, Sie haben recht«, sagte Sofie und betrat den großen hinteren Raum, in dem ihre Bilder ausgestellt waren, insgesamt dreiunddreißig Arbeiten. Zwölf Ölbilder, zwölf Studien in Kohle oder Tusche als Vorarbeiten zu den Ölbildern, sechs Pastelle und drei Aquarelle. Es gab zwei Stillleben, die übrigen waren figürliche Darstellungen, acht davon Studien von Edward. Es machte sie nervös, Edwards Blicke, wenn auch nur von der Leinwand herunter von allen Seiten auf sich zu spüren, und eine merkwürdige Mischung aus Glück und Schmerz durchrieselte sie.
Zwei Arbeiter waren gerade dabei, das letzte große Ölbild an der rückwärtigen Wand anzubringen. Eine Aktstudie von Edward, die sie in Paris gemalt hatte.
Jacques sah ihren Blick und lächelte. »Unser Prunkstück.«
»Nein!« rief Sofie entsetzt.
»Ma cherie?«
Sofie eilte auf das Bild zu, das alle anderen Arbeiten in den Schatten stellte. Edward blickte auf Sofie und Jacques von der Leinwand herunter. Er stand mit einer Schulter an eine Wand gelehnt, von der die Farbe blätterte. Hinter ihm befand sich ein Fenster, durch das man die Windmühlen von Montmartre erahnte. Sein dem Betrachter zugewandtes Bein war im Knie angewinkelt das Gewicht lagerte auf dem anderen Bein. Dadurch wurde kein anstößiger
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