Jenseits Der Unschuld
früher Kindheit gelernt, Gefühle zu verbergen, für sich zu behalten, sie nicht nach außen zu tragen.
Kurz nachdem ihr Vater sie verlassen hatte, hatte Sofie zu malen begonnen. Ihre Kinderbilder waren bunte Farborgien, Vulkanausbrüche in Form und Farbe. Sie hatte ihren Vater so sehr geliebt und nicht begriffen, dass er sie verlassen hatte. Heute wusste Sofie, dass die Anfänge ihrer Malleidenschaft zu Papier gebrachte Wutausbrüche waren.
Sofie lächelte matt. Als sie mit dreizehn anfing, ernsthaft Malen zu lernen, wurde sie gezwungen, sich den festgefügten Gesetzen der Zeichenkunst zu beugen und sich ihre Techniken anzueignen. Zunächst musste sie das Handwerk, das Rückgrat der Malerei beherrschen, die Voraussetzung für den Künstler, um sich in seinem späteren Schaffen frei entfalten zu können. Sofie war nicht entgangen, dass sie vor kurzem wieder begonnen hatte, in die freie Gestaltung ihrer Kinderjahre zurückzufinden. Ihre Kunst war in Form und Farbgebung explosiv, wobei allerdings das naive Element des Kindhaften nicht mehr vorhanden war.
Sofie nahm das neu begonnene Zeichenbuch zur Hand, in dem sie letzte Nacht gearbeitet hatte, schlug es auf und betrachtete Edward Delanzas Porträtskizze. Sie hatte seinen Kopf in kühnen Strichen angedeutet, seine Züge wirkten wie aus Holz geschnitzt, und dennoch war die Ähnlichkeit und Lebendigkeit der Darstellung verblüffend.
Gedankenverloren betrachtete sie seine Augen, seinen Blick, in dem so viele Andeutungen lagen. Doch sie brachte nicht den Mut auf, diesen Blick zu entschlüsseln.
Sofie musste sich damit abfinden. Er war fort; ihre Begegnung hatte ihm nichts bedeutet.
Lisa stürmte unerwartet ins Zimmer.
»Was ist los mit dir, Sofie? Du warst weiß wie die Wand beim Lunch!« Lisa eilte zu ihrer Schwester, setzte sich neben sie aufs Bett und legte ihr den Arm um die Schultern.
»Mir geht's ausgezeichnet.«
»Du hast keinen Bissen gegessen. Bist du krank?«
Sofie seufzte. »Nein, natürlich nicht.« Selbst wenn sie Worte gefunden hätte, um Lisa ihre Verwirrung und Enttäuschung zu schildern, hätte sie es nicht getan. Sonst war Lisa diejenige, die an ihrer Schulter weinte - nicht umgekehrt.
»Bist du sicher?«
»Ja, ganz sicher.« Es war gut, dass es so gekommen war, redete Sofie sich ein. Beinahe wäre sie der Illusion erlegen, sie könnte doch noch Zugang zu einer Welt finden, die ihr verschlossen war. Es war zu ihrem Besten, dass Edward abgereist war, ehe sie ihr Herz an ihn verloren und sich lächerlich gemacht hätte. Im übrigen war seine überstürzte Abreise der schlüssige Beweis, wie unaufrichtig sein Charme und seine Nettigkeit waren.
»Komm nach unten und mach mit uns einen kleinen Spaziergang«, bat Lisa. »Dieser Rechtsanwalt scheint sich für dich zu interessieren.«
Sofie winkte ab. »Mr. Marten versucht nur, höflich zu sein.«
Lisa seufzte. »Ach, Sofie, musst du dich denn immer absondern?«
Sofie dachte an die Predigt ihrer Mutter. »Wirke ich denn wie ein Außenseiter?«
»Nein, nicht wie ein Außenseiter, aber sonderbar, Sofie. Du solltest öfter ausgehen. Gesellschaften und Tanzveranstaltungen machen doch Spaß. Ich hoffe, dass du wenigstens zu meinem Debütantinnenball kommst.«
»Natürlich komme ich«, antwortete Sofie. Vielleicht hatte Lisa recht, sie sollte öfter unter die Leute gehen. Aber wie sollte sie ein Gesellschaftsleben führen, ohne ihr Malstudium zu vernachlässigen? Im Übrigen hatten ihr
"Gesellschaften" noch nie viel bedeutet. War es ein Fehler, sich so sehr auf die Malerei zu konzentrieren und dabei alles andere hintanzustellen?
Lisa stand auf. »Zeichnest du wieder?« Sie warf einen Blick auf das Skizzenbuch.
»Heute nicht«, antwortete Sofie und legte die Zeichnung achtlos beiseite.
»Vorsicht Sofie! Du zerknitterst das Blatt.« Lisa, die wusste, wie wichtig ihrer Schwester die Malerei war, glättete das Papier. Und dann verharrte ihre Hand. »Sofie, du hast ihn gezeichnet!«
Sofie schwieg.
»Du bist in ihn verliebt! « rief sie erstaunt.
»Nein!« brauste Sofie auf.
Lisa betrachtete das Porträt mit großen Augen. »Aber ich sehe es doch, Sofie. Hier in dieser Zeichnung.«
Sofie saß stocksteif da. »Ich kenne Mr. Delanza kaum, Lisa. Wie kannst du behaupten, ich sei in ihn verliebt? Das ist doch lächerlich.«
»Lächerlich? Pah! Es gibt kaum eine Frau in ganz New York, die nicht in Edward Delanza verliebt ist!« Lisa umarmte sie. »Oh, mein armer Liebling. Ich konnte doch nicht ahnen,
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