Jenseits Der Unschuld
Vormittag würde sie wie der in New York sein bei ihren täglichen Unterrichtsstunden an der Kunstakademie und ihrer nächtlichen einsamen Arbeit im Atelier. Nach diesem Tag würde sie Edward Delanza nie wiedersehen.
Wenn sie an die verrückten Ereignisse des Vortags dachte, wunderte sie sich, wie all das geschehen konnte. Lieber Himmel, er hatte nicht nur ihren verkrüppelten Fuß berührt und massiert, er hatte völlig selbstverständlich darüber geredet, als sei es das Normalste von der Welt. Und sie hatte mit ihm über ihre Lebenspläne gesprochen, hätte ihm beinahe ihre geheimsten Ängste anvertraut - einem völlig Fremden.
Sofie rief sich zur Ordnung. Der gestrige Abend war für ihn ein flüchtiger Flirt, einer von Hunderten, ja, Tausenden. Nur sie maß der Begegnung eine tiefere Bedeutung bei; kein Wunder, war es doch ihre erste diesbezügliche Erfahrung. Dennoch konnte sie seine Freundlichkeit, seine Fürsorge nicht vergessen, ebenso wenig seinen unwiderstehlichen Charme. Dabei war er ihr nicht als Schmeichler erschienen. Im Gegenteil. Er wirkte aufrichtig und nicht verstellt.
Sofie wagte keine weiteren Spekulationen anzustellen. Es war beinahe Mittag; die Gäste versammelten sich bereits im Haus zum Mittagessen. Als sie das Zimmer durchquerte, vermied sie wie, gewohnt den Blick in den Spiegel.
Doch dann zögerte sie. Edward Delanza hatte sie gefragt, ob sie ihre Schönheit zu verbergen suche, um unerwünschte Verehrer abzuschrecken.
Zaudernd wandte Sofie sich dem Spiegel zu. Sie wusste genau, dass sie nicht schön war und seine Worte nur als nette Schmeichelei gedacht waren. Sofie betrachtete sich im Spiegel und suchte nach einer Spur Schönheit in ihrer Erscheinung.
Ein duftiges Sommerkleid konnte leider nichts daran ändern, dass sie altbacken und reizlos aussah. Ihr Gesicht war nichtssagend und langweilig. Sie würde nie zur strahlenden Schönheit erblühen wie Hilary oder Lisa. Daran änderte auch eine noch so wohlgemeinte Schmeichelei nichts.
Sie eilte aus dem Zimmer und die Treppe hinab, in ihrer Hast stolperte sie beinahe. Im Salon blieb sie stehen. Die Gäste kamen paarweise und in Gruppen aus dem Garten und strebten lachend und plaudernd dem Speisesaal zu.
Edward war nicht zu sehen. Wenn nur ihr Herz nicht so rasen würde!
»Guten Tag, Miß O'Neil.«
Sofie fuhr herum. Henry Marten stand errötend hinter ihr. Sofie lächelte dünn. »Guten Morgen, Mr. Marten. Hat Ihnen der Ausritt Spaß gemacht?«
»Ja, sehr. Darf ich Sie zu Tisch begleiten, Miß O'Neil?«
Sofie hob eine Braue. Gestern Abend hatte Henry kein Wort an sie gerichtet, weder vor dem Dinner noch danach.
Sein Sinneswandel verwunderte sie. »Gerne«, erwiderte sie und lächelte höflich.
Im Speisesaal scharten sich die Gäste um das reichhaltige, kunstvoll angerichtete Büfett, für das Suzanne weithin berühmt war. Sofies Blicke schweiften in die Runde.
»Seltsam«, meinte sie enttäuscht, »ich kann Mr. Delanza gar nicht sehen. «
Henry sah sie erstaunt an. »Er ist abgereist. Wussten Sie das nicht? Hat er sich nicht von Ihnen verabschiedet?«
Sofie glaubte, sich verhört zu haben. »Pardon?«
»Er ist zurück in die Stadt gefahren ... Miß O'Neil, fühlen Sie sich nicht wohl?«
Sie konnte nicht sprechen.
»Miß O'Neil?«
Sofie atmete stockend. ' Ihre Enttäuschung war grenzenlos. So sehr sie versucht hatte, klaren Kopf zu bewahren, sich nicht in Träumereien zu verlieren, sich keinen falschen Hoffnungen hinzugeben, so hatte sie sich dennoch auf die heutige Begegnung mit Edward Delanza gefreut. Sie hatte sich vorgenommen, damenhafter und weniger exzentrisch zu sein.
Und im Stillen hatte sie gehofft, Edward möge sie ein bisschen interessant, eine Spur reizvoll finden.
»Miß O'Neil?« Henry hielt sie am Ellbogen. Seine Stimme klang aufrichtig besorgt.
Sofie erkannte beschämt, was für eine dumme Gans sie war. Hatte sie nicht von Anfang an gewusst, dass sie Edward nichts bedeutete? Dass diese Begegnung für ihn nichts anderes war als ein flüchtiger Flirt? Sofie hatte große Mühe, die Fassung zu bewahren. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, ihre Augen brannten. Wie albern! Sie zwang sich zu einem Lächeln und hoffte flehentlich, dass Henry ihr die Enttäuschung nicht allzu deutlich ansah.
»Wollen wir, Mr. Marten?« fragte sie mit gekünstelter Heiterkeit.
Das Mittagessen zog sich endlos in die Länge.
Sofie saß auf ihrem Bett, die Hände im Schoss verschlungen, und starrte vor sich hin.
Sie hatte in
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