Jenseits Der Unschuld
jetzt passieren musste, war nur ein weiteres Anzeichen dafür, wie sehr die Liebeszene am Strand sie aufgewühlt hatte.
Sie blieb im schmalen Flur des Küchentrakts stehen, froh um die Kühle im Haus. Ein Dienstmädchen kam ihr entgegen, fragte sie nach ihrem Befinden und teilte ihr mit, dass ihre Mutter sie suche.
Sofie wusste, dass sie schrecklich aussehen musste, sie wusste auch, dass ihre Mutter ihr zerzaustes Äußeres und ihren inneren Aufruhr bemerken würde, wobei Suzanne natürlich nicht den Grund ihrer Verstörtheit erraten würde.
Stark hinkend ging Sofie den Flur zur Eingangshalle entlang und sah ihre Mutter mit einem jungen Mann im Grünen Salon stehen.
»Sofie! Da bist du ja! Wir haben überall nach dir gesucht. Henry sagt, du seist am Strand gewesen. Stimmt das?«
Mit hochgezogenen Brauen musterte Suzanne ihre Tochter.
Sofie blieb stehen, als ihre Mutter auf sie zutrat, den jungen Mann im Schlepptau. Suzanne war eine elegante, schöne Frau mit gertenschlanker Figur. Sie hatte dunkles Haar und einen elfenbeinhellen Teint. Sie war erst sechsunddreißig. Sofies Mutter war als Sechzehnjährige schwanger geworden. Oft hatte Sofie sich ausgemalt, wie hingerissen ihre schöne Mutter von ihrem gutaussehenden, charmanten Vater Jake O'Neil gewesen sein musste, und sie fragte sich immer wieder, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn ihr Vater nicht vor vierzehn Jahren gezwungen gewesen wäre, New York fluchtartig zu verlassen. Mein Gott, er fehlte ihr so sehr! Sie liebte ihn und hatte ihn nicht vergessen.
Sofie hoffte, ihr Lächeln wirke einigermaßen natürlich. >Tut mir leid, Mutter. Ich war am Strand und habe gezeichnet.«
Suzanne blinzelte. »Allein?«
Sofie nickte.
Suzanne wandte sich dem jungen Mann zu, der einen nervösen Eindruck machte. »Habe ich Ihnen schon erzählt, dass meine Tochter Künstlerin ist? Sie studiert an der Akademie und verbringt oft ganze Nächte in ihrem Atelier.
Sie will eine berühmte Malerin werden.«
Sofie wunderte sich sehr. Ihre Mutter sprach nie über ihre künstlerischen Neigungen, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Etwa ein Viertel der Kunststudenten an der Akademie waren junge Frauen, alle ebenso engagiert und begeistert wie Sofie. Im allgemeinen galt es jedoch als höchst sonderbar, wenn eine Frau sich für Kunst interessierte statt dafür, sich einen Ehemann zu angeln. Sofie warf dem jungen Mann einen Blick zu, der verwirrt den Kopf schüttelte. Sie wusste genau, was ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte.
»Sofie ist sehr talentiert«, fuhr Suzanne lächelnd fort. »Liebes, zeig uns, was du heute gezeichnet hast. «
Sofie dachte an ihr Skizzenbuch, das sie am Strand hatte liegenlassen, und an den Grund, warum sie es vergessen hatte. »Mein Skizzenbuch ist in meinem Zimmer«, murmelte sie. »Ich zeige es ein anderes Mal.« Dabei hielt sie den Blick auf ihre Mutter geheftet und fragte sich, was sie im Schilde führte. Suzanne hatte keinerlei Verständnis für ihre Malerei und hatte noch nie den Vorschlag gemacht, ihren Gästen eine Arbeit von Sofie zu zeigen.
»Ich möchte dir Henry Marten vorstellen, Liebes«, sagte Suzanne und schob den jungen Mann nach vorn. »Ein Cousin von Annette. Er hat sein Jurastudium beendet und wird bald eine Anwaltskanzlei eröffnen.«
Sofie musste sich zwingen, dem jungen Mann ins Gesicht zu sehen, der verlegen und unbeholfen wirkte. Lächelnd streckte sie ihm die Hand hin und glaubte den Grund seiner Verlegenheit zu erraten. Vermutlich hatte er den Eindruck, Suzanne spiele die Rolle der Heiratsvermittlerin, was völlig absurd war. Sofie hatte nicht einmal ihr Debüt gehabt, wie sollte sie auch. Sie konnte ja nicht einmal tanzen.
Nicht, dass sie darunter gelitten hätte. Sofies Traum war seit jeher gewesen, Künstlerin zu sein. Sie war auch nicht so naiv anzunehmen, dass ein Mann einen Krüppel zur Frau haben wollte, die noch dazu eine begeisterte Malerin war. Mutter und Tochter waren sich längst darin einig, dass Suzanne sie nicht auf dem Heiratsmarkt anpreisen und keinen Ehemann für sie suchen würde. Es wäre zu demütigend und aussichtslos gewesen. Sofie stand es frei, sich ihrer wahren Bestimmung zu widmen.
Und das war auch gut so. Mit einundzwanzig beabsichtigte Sofie, nach Paris zu gehen, um ihr Kunststudium fortzusetzen. Vielleicht gelang es ihr sogar, bei einem der großen Meister wie Paul Cezanne oder Mary Cassatt Unterricht zu nehmen, zwei Künstler, die sie tief bewunderte und verehrte.
Sofie musterte
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