Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
Dunkelheit, aber da er zweimal vom Nuncio berührt worden war, fiel es Raul nicht schwer, die Stelle wiederzufinden. Gleich und gleich gesellte sich eben gern. Er ermahnte die Frauen, Füße und Hände von der verschütteten Flüssigkeit fernzuhalten, nahm Tesla allein auf die Arme und legte sie nieder, so daß der verschüttete Nuncio einen Heiligenschein um ihren Kopf 418
    bildete. Die Überreste der Phiole enthielten immer noch den größten Teil. Er drehte ihren Kopf äußerst behutsam zu den Scherben der Phiole. Als der Nuncio die Nähe der Frau spürte, begann die Flüssigkeit einen Glühwürmchentanz...

    ... die giftige Helligkeit, die auf Tesla herunterregnete, nachdem sie von Tommy-Rays Kugel zu Fall gebracht worden war, hatte sich binnen Sekunden verfestigt und war zu einem grauen, konturlosen Ort geworden, wo sie nun lag und keine Ahnung hatte, wie sie hergekommen war. Sie konnte sich nicht mehr an die Mission, Raul oder Tommy-Ray erinnern. Nicht einmal den eigenen Namen wußte sie mehr. Alles lag
    außerhalb der Mauer, wo sie nicht hingehen konnte. Wo sie vielleicht nie wieder hingehen konnte. Das erfüllte sie nicht mit irgendwelchen Empfindungen. Da sie keine Erinnerungen hatte, konnte sie auch um nichts trauern.
    Aber jetzt kratzte etwas auf der anderen Seite an der Wand.
    Sie hörte es vor sich hinsummen, während es arbeitete, wie ein Liebhaber, der an den Steinen ihrer Zelle grub und
    entschlossen war, zu ihr zu kommen. Sie lauschte und wartete, und nun war sie nicht mehr ganz so vergeßlich und auch nicht mehr so gleichgültig, was ihre Flucht anbetraf. Ihr Name fiel ihr als erstes wieder ein, sie hörte ihn in dem Summen draußen.
    Dann die Erinnerung an die Schmerzen, die die Kugel bereitet hatte, und das grinsende Gesicht von Tommy-Ray, und Raul und die Mission und...
    Nuncio.
    Das war die Kraft, nach der sie gesucht hatte, und nun suchte diese umgekehrt nach ihr und überwand die Mauern des
    Limbo. Ihre Unterhaltung mit Fletcher über die verwandelnde Wirkung des Nuncio war allzu kurz gewesen, aber sie hatte seine grundlegende Funktion bestens begriffen. Er erweiterte die Eigenschaften, mit denen er in Berührung kam; ein Wettlauf gegen die Entropie auf ein Ziel zu, welches niemand 419
    ahnen konnte. War sie bereit für so eine erleuchtende Berührung? Der Nuncio hatte aus Jaffe etwas aufgeblähtes Böses gemacht und aus Fletcher einen bestürzten Heiligen.
    Was mochte er aus ihr machen?

    Im letzten Augenblick kamen Raul Zweifel an der Klugheit seiner Behandlung, und er wollte Tesla aus der Reichweite des Nuncio nehmen, aber er schnellte bereits aus den Scherben der Phiole zu ihrem Gesicht. Sie inhalierte ihn wie einen flüssigen Atemzug. Um ihren Kopf herum flogen die anderen Tropfen zu Kopfhaut und Hals.
    Sie keuchte, ihr ganzer Körper zitterte, als der Bote in sie eindrang. Und dann ließ das Zittern ihrer Gelenke und Nerven ebenso unvermittelt nach.
    Raul murmelte: »Stirb nicht. Stirb nicht.«
    Er wollte gerade die Lippen auf ihre drücken, als letzte Ver-zweiflungsmaßnahme, um sie zu erhalten, als er eine
    Bewegung hinter den geschlossenen Lidern sah. Sie drehte die Augen rasend hin und her und erblickte etwas, das nur sie allein sehen konnte.
    »Lebend...«, murmelte sie.
    Hinter ihr fingen die Frauen, die alles mit angesehen hatten, ohne es zu begreifen, zu beten und wimmern an, entweder aus Dankbarkeit oder Angst vor dem, was sie gesehen hatten. Er wußte es nicht. Aber auch er sprach murmelnd Gebete, ohne sich seiner Beweggründe sicherer zu sein als die Frauen.

    2

    Die Wände verschwanden plötzlich. Wie ein Damm, der zuerst an einer winzigen Stelle bricht und dann vom Druck der Sturzflut gesprengt wird.
    Sie hatte damit gerechnet, daß die Welt, die sie verlassen 420
    hatte, auf sie warten würde, wenn die Mauern zu Trümmern geworden waren. Sie irrte sich. Von der Mission war nichts zu sehen, auch nicht von Raul. Statt dessen lag eine Wüste vor ihr, die von einer Sonne erhellt wurde, welche die volle Kraft noch nicht erreicht hatte, und durch die ein Wind wehte, der Tesla in dem Augenblick ergriff, als die Mauern fielen, und sie über den Boden trug. Ihre Geschwindigkeit war erschreckend, aber sie konnte nicht bremsen oder die Richtung ändern, denn sie hatte keine Glieder und keinen Körper mehr. Hier bestand sie nur aus Gedanken; Reinheit an einem reinen Ort.
    Dann vor ihr ein Anblick, der diesen Gedanken Lügen
    strafte. Am Horizont waren Spuren menschlicher Besiedlung zu

Weitere Kostenlose Bücher