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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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ein Wehklagen an und liefen davon, wobei sie ihre Kinder hinter sich herzogen. Mit dem Nuncio in der Hand hastete er den Berg hinunter zu der Stelle, wo er das Auto geparkt hatte. Ein Blick zurück bestätigte ihm, 413
    daß der Gefährte der Frau - dessen ungestalte Züge und unheimliche Schnelligkeit ihn aus der Fassung gebracht hatten
    - ihn nicht verfolgte.

    Raul legte die Hand an Teslas Wange. Sie war fiebrig, lebte aber. Er zog das Hemd aus und preßte es auf die Verletzung, dann legte er ihre schlaffe Hand darauf, um es an Ort und Stelle zu halten. Danach schritt er in die Dunkelheit und rief die Frauen aus ihren Verstecken. Er kannte die Namen aller.
    Sie wiederum kannten ihn und vertrauten ihm. Sie kamen, als er rief.
    »Kümmert euch um Tesla«, wies er sie an. Dann folgte er dem Todesjungen und seiner Beute.

    Tommy-Ray konnte das Auto bereits erkennen - oder besser, seinen geisterhaften Umriß im Mondenschein -, als er aus-rutschte. Im Bemühen, Waffe und Phiole festzuhalten, ließ er beide fallen. Er fiel, das Gesicht voraus, heftig in den Staub.
    Steine schnitten ihm Wangen, Kinn, Arme und Hände auf. Als er wieder aufstand, begann Blut zu fließen.
    »Mein Gesicht!« sagte er und betete zu Gott, daß sein Aussehen keinen Schaden genommen hatte.
    Es folgten noch mehr schlechte Nachrichten. Er konnte hö-
    ren, wie der häßliche Pisser den Berg herunterkam.
    »Willst sterben, was?« grunzte er seinem Verfolger
    entgegen. »Kein Problem. Können wir einrichten. Kein
    Problem.«
    Er tastete nach der Waffe, aber die war ein paar Meter weit weggerutscht. Aber die Phiole war unter seiner Hand. Er hob sie auf. Dabei bemerkte er, daß sie nicht mehr passiv war. Sie lag warm auf der blutigen Handfläche. Hinter dem Glas bewegte sich etwas. Er hielt sie fester, damit sie ihm nicht noch einmal aus der Hand rutschen konnte. Die Flüssigkeit reagierte sofort und leuchtete zwischen seinen Fingern.
    414
    Viele Jahre waren vergangen, seit der Rest des Nuncio sein Werk an Fletcher und Jaffe getan hatte. Dies, der Rest, war weitab zwischen Steinen vergraben gewesen, die so fest waren, daß nichts sie erschüttern konnte. Er war kalt geworden und hatte seine Botschaft vergessen. Aber jetzt erinnerte er sich.
    Tommy-Rays Enthusiasmus weckte alte Ambitionen.
    Er sah, daß der Nuncio leuchtend wie eine Messerklinge, grell wie ein Pistolenschuß, gegen das Glas der Phiole drängte.
    Dann zerbrach er sein Gefängnis und schnellte ihm zwischen den Fingern hindurch entgegen - die er jetzt gegen seinen Angriff spreizte - auf sein ohnedies schon verletztes Gesicht zu.
    Seine Berührung schien sanft zu sein - ein warmer Spritzer, wie Sperma, wenn er sich einen abwichste, der ihn am Auge und dem Mundwinkel erwischte. Aber es warf ihn rückwärts auf den Rücken; die Steine rissen die Ellbogen blutig, ebenso Hintern und Rücken. Er wollte schreien, brachte aber keinen Laut heraus. Er versuchte, die Augen aufzumachen, damit er sehen konnte, wo er war, aber auch das konnte er nicht.
    Herrgott! Er konnte nicht einmal mehr atmen. Seine Hände, die den Nuncio im Sprung berührt hatten, klebten am Gesicht und versperrten Augen, Nase und Mund. Es war, als wäre er in einem Sarg eingeschlossen, der für jemanden gemacht wurde, der zwei Nummern kleiner war als er. Er schrie wieder gegen den Knebel der eigenen Handfläche an, aber er stand auf verlorenem Posten. Irgendwo in seinem Hinterkopf sagte eine Stimme:
    »Gib nach. Du willst es doch. Wenn du der Todesjunge werden willst, mußt du zuerst den Tod kennenlernen. Spüre ihn.
    Verstehe ihn. Erleide ihn.«
    Darin war er, wahrscheinlich wie in keiner anderen Lektion in seinem kurzen Leben, Meisterschüler. Er leistete der Panik keinen Widerstand, sondern ließ sich von ihr treiben, ritt sie wie eine Welle in Zuma, der Dunkelheit einer unbekannten 415
    Küste entgegen. Der Nuncio begleitete ihn. Tommy-Ray
    spürte, wie er mit jeder schwitzenden Sekunde etwas Neues aus ihm machte, auf den Spitzen seiner aufgerichteten Härchen tanzte, einen Rhythmus, den Rhythmus des Todes, zwischen seinen pochenden Herzschlägen schlug.
    Plötzlich war er voll davon; oder der Nuncio von ihm; oder beides. Er konnte die Hände wie Saugnäpfe vom Gesicht ziehen und wieder atmen.
    Nach ein paar keuchenden Atemzügen sah er auf und
    betrachtete seine Handflächen. Sie waren blutig, vom Blut aus seinem Gesicht und anderen Verletzungen, aber die Flecken verschwanden vor einer beharrlicheren Wirklichkeit. Ihm wurde

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