Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
schwebte einen Augenblick über der Szene und sah sich 62
    selbst unten auf dem Boden, inmitten von Glasscherben, wo er sich den Kopf hielt, als wollte er verhindern, daß dieser platzte.
    Fletcher trat ins Bild. Er schien auf den Körper einzusprechen, aber Jaffe konnte die Worte nicht hören. Zweifellos eine selbstgefällige Rede über die Vergeblichkeit menschlichen Strebens.
    Plötzlich lief er mit erhobenen Fäusten auf den Körper zu und schlug auf ihn ein. Er zerstob, wie das Porträt am Fenster. Jaffe heulte, als sein körperloser Geist in die Stofflichkeit am Boden zurückgezogen wurde, in seine vom Nuncio verwandelte
    Anatomie.
    Er öffnete die Augen und sah zu dem Mann auf, der seine Kruste zertrümmert hatte, und erblickte Fletcher mit neuem Verständnis.
    Sie waren von Anfang ein ungleiches Paar gewesen, und die fundamentalen Prinzipien beider hatten dem anderen mißfallen.
    Aber jetzt erkannte Jaffe die Mechanismen ganz deutlich. Jeder war des anderen Nemesis. Keine zwei anderen Wesen auf Erden standen in so krassem Gegensatz zueinander. Fletcher liebte das Licht, wie es nur ein Mann, der Todesangst vor dem Unbekannten hat, lieben kann; eines seiner Augen konnte die Oberfläche der Sonne nicht mehr betrachten. Und er selbst war der Jaff, der wahre und einzige, verliebt in die Dunkelheit, in der seine Wut Nahrung und ihren Ausdruck gefunden hatte.
    Die Dunkelheit, die den Schlaf brachte und die Reise zum Meer der Träume jenseits des Schlafes. So schmerzvoll die Ausbildung durch den Nuncio gewesen war, es war gut, daß er daran erinnert worden war, was er war. Mehr als erinnert -
    durch das Glas seiner eigenen Erinnerungen vergrößert. Nicht mehr in der Dunkelheit, sondern ein Teil von ihr, und befähigt, von der ›Kunst‹ Gebrauch zu machen. In seinen Händen juckte es ihn schon, das zu tun. Und dieses Jucken brachte das Begreifen mit sich, wie man den Schleier wegreißen und zum Meer der Essenz vordringen konnte. Er brauchte kein Ritual.
    Er brauchte weder Sprüche noch Opfer. Er war eine
    63
    weiterentwickelte Seele. Seine Bedürfnisse ließen sich nicht leugnen, und er hatte Bedürfnisse im Übermaß. Aber indem er dieses neue Selbst erreicht hatte, hatte er unfreiwillig eine Kraft erschaffen, die ihn bei jedem Schritt bekämpfen würde, wenn er ihr nicht hier und jetzt Einhalt gebot. Er stand auf und mußte keine Herausforderung von Fletchers Lippen hören, um zu wissen, daß die Feindschaft zwischen ihnen vollkommen klar war. Er las den Ekel in der Flamme, die in den Augen seines Gegners leuchtete. Das Genie sauvage, der Drogendämon und die Zimperliese Fletcher waren aufgelöst und neu erschaffen worden: freudlos, verträumt und klug. Vor Minuten war er noch bereit gewesen, nur am Fenster zu sitzen und sich danach zu sehnen, Himmel zu werden, bis das Sehnen oder der Tod ihre Arbeit taten. Jetzt nicht mehr.
    »Ich verstehe alles«, verkündete er und beschloß, die Stimmbänder zu benützen, da sie nun gleich und ebenbürtig waren.
    »Du hast mich dazu benützt, dich größer zu machen, damit du dir den Weg zur Offenbarung erschleichen konntest.«
    »Und das werde ich auch«, antwortete der Jaff. »Jetzt bin ich unvermeidlich.« Er breitete die Arme aus. Kugeln reinster Energie, winzigen Kugellagern gleich, wurden aus den Händen ausgeschwitzt. »Siehst du? Ich bin ein Künstler.«
    »Erst wenn du die ›Kunst‹ benützen kannst.«
    »Und wer soll mich daran hindern? Du?«
    »Ich habe keine andere Wahl. Ich trage die Verantwortung.«
    »Wie? Ich habe dich einmal zusammengeschlagen. Ich kann es wieder tun.«
    »Ich werde Visionen gegen dich beschwören.«
    »Das kannst du versuchen.« Beim Sprechen kam dem Jaff eine Frage in den Sinn, die Fletcher zu beantworten begann, noch ehe er sie völlig ausformuliert hatte.
    »Warum ich deinen Körper berührt habe? Ich weiß nicht.
    Der Nuncio hat es verlangt. Ich wollte nicht darauf achten, aber er hat danach geschrien.«
    64
    Er machte eine Pause, dann sagte er: »Vielleicht ziehen sich Gegensätze an, selbst in deinem Zustand.«
    »Dann sage ich: Je früher du tot bist, desto besser«, sagte der Jaff und streckte die Arme aus, um seinem Gegner den Hals umzudrehen.

    In der Dunkelheit, die vom Pazifik her über die Mission kam, hörte Raul den ersten Kampfeslärm. Er wußte durch die Echos in seinem eigenen, vom Nuncio verwandelten Körper, daß das Destillat hinter den Mauern im Einsatz war. Sein Vater, Fletcher, hatte sein eigenes Leben hinter sich

Weitere Kostenlose Bücher