Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
aus:
    »Jede Grausamkeit in Ihnen, Jaffe, jede Angst, jede Dummheit, jede Feigheit. Alles wird Sie überwältigen. Sie sind darauf vorbereitet? Ich glaube nicht. Er wird Ihnen zuviel zeigen.«
    »Zuviel gibt es nicht«, sagte Jaffe, achtete nicht mehr auf die Einwände und griff nach der ersten Phiole. Der Nuncio konnte es nicht erwarten. Er zerschmetterte das Glas, der Inhalt schnellte Jaffes Haut entgegen. Wissen - und Entsetzen -
    kamen augenblicklich, denn der Nuncio vermittelte seine Botschaft beim Kontakt. In dem Augenblick, als Jaffe
    erkannte, daß Fletcher recht hatte, besaß er nicht mehr die Macht, seinen Fehler zu korrigieren.
    60
    Der Nuncio hatte wenig oder gar kein Interesse daran, die Ordnung seiner Zellen zu verändern. Wenn das geschah, dann lediglich als Folge einer grundlegenderen Verwandlung. Er betrachtete seine Anatomie als Einbahnstraße. Die geringen Ver-besserungen, die er in dem Organismus vornehmen konnte, waren unter seiner Würde. Er vergeudete keine Zeit damit, Fingergelenke zu verbessern oder den Unterleib zu
    verwandeln. Er war ein Prophet, kein Schönheitschirurg. Der Verstand war sein Ziel. Der Verstand, der den Körper als Befriedigung benützte, selbst wenn diese Befriedigung dem Behältnis schadete. Denn der Verstand war der Ursprung der Gier nach Veränderung und deren emsiger kreativer Agent.
    Jaffe wollte um Hilfe bitten, aber der Nuncio hatte bereits seine Stimmbänder übernommen und hinderte ihn daran, ein Wort zu sprechen. Gebete waren sinnlos. Der Nuncio war Gott.
    Vorher in einer Flasche, jetzt in seinem Körper. Jaffe konnte nicht einmal sterben, obwohl sein Körper so heftig schlotterte, daß es schien, als würde er bersten. Der Nuncio untersagte alles, außer seinem eigenen Wirken. Seinem
    ehrfurchtgebietenden, vervollkommnenden Wirken.
    Als erstes legte er den Rückwärtsgang von Jaffes
    Erinnerungen ein und schoß ihn von dem Augenblick, als er in ihn eingedrungen war, sein ganzes Leben zurück,
    durchleuchtete jedes Ereignis, bis zurück in die Wasser des Mutterleibes. Ein Augenblick schmerzlichen Sehnens nach eben diesem Ort wurde ihm gewährt - seine Ruhe, seine Sicherheit -, dann zerrte ihn sein Leben wieder heraus und begann die Rückreise durch sein unbedeutendes Leben in Omaha. Vom Anfang seines bewußten Lebens an hatte er
    soviel Wut in sich. Gegen das Unbedeutende und das
    Politische; gegen die Streber und die Verführer, die Mädchen aufrissen und gute Noten bekamen. Er empfand alles erneut, aber viel intensiver: wie Krebszellen, die binnen eines Augenblicks dick und fett wurden und ihn vermehrten. Er sah seine 61
    Eltern dahinscheiden und sich selbst außerstande, sie zu halten oder - als sie nicht mehr waren - um sie zu trauern, aber dennoch wütend, weil er nicht wußte, warum sie gelebt oder ihn selbst in die Welt gesetzt hatten. Er verliebte sich wieder, zweimal. Er wurde zweimal abgewiesen. Nährte den Haß, schmückte die Narben, ließ die Wut größer und größer werden.
    Und zwischen diesen bemerkenswerten Tiefpunkten die ewige Tretmühle der Jobs, die er nicht behalten konnte, und Menschen, die Tag für Tag seinen Namen vergaßen; ein
    Weihnachtsfest nach dem anderen, und jedes nur dadurch gekennzeichnet, daß er wieder ein Jahr älter war. Er kam niemals dem Begreifen näher, warum er erschaffen worden war
    - warum irgend jemand erschaffen wurde, wo doch alles Betrug und Charade war und sowieso zu Nichts wurde.
    Dann das Zimmer am Kreuzweg, vollgestopft mit Postirrläufern, und plötzlich hatte seine Wut ein Echo von einer Küste zur anderen, wilde, wütende Menschen wie er selbst, die auf ihre Verwirrung einstachen und hofften, einen Sinn zu erkennen, wenn sie blutete. Einigen war das gelungen. Sie hatten, wenn auch flüchtig, Geheimnisse erblickt. Und er bekam die Beweise dafür. Zeichen und Kodes; das Medaillon des Schwarms, das ihm in die Hände gefallen war. Einen Augenblick später hatte er das Messer in Homers Kopf
    gestochen und war, lediglich mit einem Bündel Hinweisen bewaffnet, auf dem Weg zu einer Reise, die ihn, mit jedem Schritt mächtiger werdend, nach Los Alamos und in die Schleife geführt hatte, und schließlich zur Misión de Santa Catrina.
    Er wußte immer noch nicht, warum er erschaffen worden war, aber er hatte in seinen vier Lebensjahrzehnten soviel angehäuft, daß der Nuncio ihm eine vorläufige Antwort geben konnte. Wegen der Wut. Wegen der Rache. Damit er Macht bekam und von dieser Macht Gebrauch machte.
    Er

Weitere Kostenlose Bücher