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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Anblick besessen war. Er fragte sich langsam, wie damals, als ihn die Flut erstmals in Sichtweite von Ephemeris gebracht hatte, was für ein großes Unbekanntes sich da oben verbergen mochte, das so gewaltig war, daß es die Schlafenden der Welt zu seiner Schwelle lockte. Byrne war keineswegs behende, zumal er nur eine Hand gebrauchen konnte. Er rutschte mehrmals ab. Aber er beschwerte sich nie, obwohl er nach jedem Sturz mehr Kratzer und Schürfwunden am nackten Körper hatte. Er ließ den höchsten Berggipfel nicht aus den Augen und kletterte weiter, und es schien ihm völlig einerlei zu sein, welchen Schaden er sich selbst zufügte, so lange er nur die Entfernung zwischen sich und dem Geheimnis überwand. Howie konnte mühelos mit ihm Schritt halten, aber er mußte alle paar Minuten innnehalten und die Szenerie unter sich von einem neuen Blickwinkel aus betrachten. Auf den sichtbaren
    Strandabschnitten war keine Spur von Jo-Beth zu sehen, und allmählich bezweifelte er, ob es so klug gewesen war, Byrne zu begleiten. Das Vorankommen wurde immer gefährlicher, die Felsformationen, die sie überwinden mußten, zunehmend steiler, die Brücken schmaler. Rechts und links von den Brücken fiel es steil und senkrecht ab, normalerweise bis auf nackten Fels. Manchmal jedoch konnte man die Essenz auf dem Grund einer Felsspalte funkeln sehen, und das Wasser war ebenso tosend wie am Ufer.
    Es waren immer weniger Seelen in der Luft, aber als sie über eine Brücke gingen, die nicht breiter als eine Planke war, schwebten ein paar direkt über sie hinweg, und Howie sah, daß sich in jedem Licht eine einzige Sinuskurve befand, einer hellen Schlange nicht unähnlich. Das Buch der Genesis, dachte er, hätte nicht irregeführter oder irreführender sein können, das 637
    Bild der unter dem Absatz zertretenen Schlange zu
    propagieren. Die Seele war diese Schlange, und sie konnte fliegen.
    Der Anblick brachte ihn zum Stillstand und zu einer
    Entscheidung.
    »Ich gehe nicht weiter«, sagte er.
    Byrne drehte sich zu ihm um. »Warum nicht?«
    »Einen besseren Ausblick über den Strand als von hier werde ich nirgends haben.«
    Der Ausblick war keineswegs umfassend, aber wenn er noch weiter hinaufkletterte, würde er nicht besser werden.
    Außerdem waren die Gestalten am Strand mittlerweile so klein, daß sie kaum mehr zu erkennen waren. Noch ein paar Minuten des Aufstiegs, und er würde Jo-Beth nicht mehr von den anderen Überlebenden am Strand unterscheiden können.
    »Wollen Sie nicht sehen, was da oben ist?« sagte Byrne.
    »Doch, selbstverständlich«, antwortete Howie. »Aber ein andermal.« Er wußte, die Antwort war lächerlich. Diesseits vom Totenbett würde es kein andermal mehr geben.
    »Dann trennen sich unsere Wege«, sagte Byrne. Er
    vergeudete keine Zeit für ein Lebewohl, freundlich oder sonstwie. Statt dessen wandte er sich wieder dem Aufstieg zu.
    Schweiß und Blut strömten ihm vom Körper, und er stolperte inzwischen bei jedem zweiten Schritt, aber Howie wußte, es wäre vergebliche Liebesmüh, ihn zur Umkehr überreden zu wollen. Vergeblich und anmaßend. Was immer er für ein Leben geführt haben mochte - und es hatte sich angehört, als hätte es keine Barmherzigkeit darin gegeben -, Byrne ergriff gerade seine letzte Chance, vom Heiligen berührt zu werden.
    Vielleicht war der Tod die unausweichliche Folge dieses Unterfangens.
    Howie betrachtete wieder die Szene unten. Er sah am Strand entlang und suchte nach Spuren von Bewegung. Links von ihm lag der Strandabschnitt, wo sie ihren Aufstieg begonnen hatten.
    638
    Er konnte immer noch die Gruppe der Überlebenden am Ufer sehen; sie schienen wie ehedem hypnotisiert zu sein. Rechts von ihnen die einsame Gestalt der Silksheen-Frau. Die Wellen, die ans Ufer brandeten und deren Dröhnen er bis hierher hören konnte, waren so hoch, daß sie sie fortzuspülen drohten. Und hinter ihr wiederum der Strandabschnitt, wo er an Land gegangen war.
    Dieser war nicht verlassen. Sein Herz schlug doppelt so schnell. Jemand taumelte am Ufer entlang und hielt sich achtsam fern vom verkrustenden Meer. Das Haar leuchtete selbst auf diese Entfernung. Es konnte nur Jo-Beth sein. Mit der Erkenntnis kam auch die Angst um sie. Es sah aus, als würde ihr jeder Schritt, den sie machte, Schmerzen bereiten.
    Er ging sofort wieder den Weg hinab, den er gekommen war.
    An manchen Stellen waren die Felsen rot von Byrnes Blut.
    Nach zehnminütigem Abstieg blieb er an so einer Stelle stehen und sah zurück,

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