Jenseits des Bösen
Keinem schien es gelungen zu sein, mehr als ein paar Schritte vom Strand wegzugehen. Einer lag noch mit den Füßen in den Wellen, ausgestreckt, als wäre er tot. Niemand kam ihm zu Hilfe. Viele waren von derselben Trägheit befallen wie die Silksheen-Frau, die nur über das Meer sah, aber manche waren auch aus anderen Gründen reglos. Sie hatten sich verwandelt aus den strömenden Wassern der Essenz gezogen. Ihre Körper waren verkrustet und mißgestaltet, als hätte derselbe Prozeß an ihnen gewirkt, der die kämpfenden Gäste in eine Insel verwandelt hatte. Er konnte nur vermuten, welche Eigenschaften,
beziehungsweise das Fehlen derselben, diese Menschen
auszeichneten. Warum hatten er und ein halbes Dutzend andere hier dieselbe Strecke in diesem Medium zurückgelegt und waren unverändert aus der Essenz herausgestiegen? Waren die Opfer mit heftigen Gefühlsaufwallungen eingetaucht, welche die Essenz aufgegriffen hatte, wohingegen er dahintrieb wie die Träumenden und sein Leben mit all seinen Ambitionen und Obsessionen hinter sich gelassen hatte und nichts weiter empfand als die große Ruhe, die die Essenz bewirkte? Diese hatte ihn sogar so sehr eingelullt, daß er den Wunsch vergessen hatte, Jo-Beth zu finden, aber nicht lange. Jetzt war es sein einziger Gedanke. Er trat zwischen die Überlebenden und suchte nach ihr, wurde aber enttäuscht. Sie war nicht unter ihnen; und auch Tommy-Ray nicht.
»Gibt es noch andere?« fragte er einen beleibten Mann, der am Ufer lag.
»Andere?«
»Sie wissen schon... wie uns.«
Der Mann wirkte ebenso geistesabwesend und zerstreut wie die Silksheen-Frau. Es schien ihm Mühe zu bereiten, den Sinn der Worte, die er gehört hatte, zu begreifen.
»Uns«, sagte Howie. »Aus dem Haus.«
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Er bekam keine Antwort. Der Mann starrte einfach nur mit glasigen Augen vor sich hin. Howie gab auf, machte sich auf die Suche nach einer nützlicheren Informationsquelle und wandte sich schließlich an den einzigen Mann, der nicht auf die Essenz hinaussah. Dieser stand statt dessen am höchsten Punkt des Strands und sah zu der Rauchsäule im Zentrum des
Archipels empor. Die Reise hierher hatte ihre Spuren an ihm hinterlassen. An Hals und Gesicht sah man die Zeichen des Wirkens der Essenz, die an der Wirbelsäule hinabzulaufen schienen. Er hatte das Hemd ausgezogen und um die linke Hand gewickelt. Howie ging zu ihm. Diesesmal keine
Entschuldigung, nur eine nüchterne Feststellung: »Ich suche ein Mädchen. Sie ist blond. Ungefähr achtzehn. Haben Sie sie gesehen?«
»Was ist da oben?« antwortete der Mann. »Dort will ich hin.
Ich will es sehen.«
Howie versuchte es noch einmal. »Ich suche...«
»Ich habe schon verstanden.«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Nein.«
»Wissen Sie, ob noch irgendwo Überlebende sind?«
Die Antwort bestand aus derselben tonlosen Silbe. Howie wurde wütend.
»Verdammt, was ist denn mit den Leuten los?« sagte er.
Der Mann sah ihn an. Sein Gesicht war pockennarbig und alles andere als schön, aber er hatte ein schiefes Lächeln, das nicht einmal das Wirken der Essenz verunstalten konnte.
»Werden Sie nicht wütend«, sagte er. »Das lohnt sich nicht.«
»Für sie lohnt es sich.«
»Warum? Wir sind doch sowieso alle tot.«
»Nicht unbedingt. Wir sind reingekommen, wir können auch wieder raus.«
»Was meinen Sie damit, etwa schwimmen? Ich gehe nicht mehr in diese verdammte Suppe. Lieber sterbe ich. Irgendwo 633
da oben.«
Er sah wieder am Berg hinauf. »Da oben ist etwas. Etwas Wunderbares. Ich weiß es.«
»Vielleicht.«
»Möchten Sie mit mir kommen?«
»Sie meinen klettern? Das schaffen Sie nie.«
»Vielleicht nicht bis ganz hinauf, aber näher auf jeden Fall.
Vielleicht kann ich mal dran schnuppern.«
Seine Neugier auf das Geheimnis des Turms war begrüßenswert, wo doch alle anderen derart lethargisch waren, und Howie bedauerte es, daß er sich von ihm trennen mußte. Aber wo Jo-Beth auch immer sein mochte, auf dem Berg sicher nicht.
»Kommen Sie doch ein Stückchen mit«, sagte der Mann.
»Von da oben sehen Sie besser. Vielleicht sehen Sie ja Ihre Freundin.«
Das war keine schlechte Idee, zumal sie so wenig Zeit hatten. Mit jeder verstreichenden Minute wurde die Unrast in der Luft schlimmer.
»Warum nicht?« sagte Howie.
»Ich habe nach dem leichtesten Weg gesucht. Ich glaube, wir sollten ein Stück am Strand entlanggehen. Übrigens, wer sind Sie eigentlich? Ich bin Garrett Byrne. Zwei r, kein u. Nur für den Fall, daß Sie den
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