Jenseits des Bösen
ob er den Mann erkennen konnte, aber die Höhen waren dunkel und, soweit er erkennen konnte,
verlassen. Die letzten Seelen waren verschwunden, und mit ihnen der Großteil des Lichts. Byrne war nirgends zu sehen.
Aber als er sich umdrehte, sah er ihn. Der Mann stand zwei oder drei Meter tiefer als der Felsvorsprung. Die Vielzahl der Verletzungen, die er sich auf dem Weg nach oben geholt hatte, waren nichts verglichen mit seiner neuesten. Sie verlief von der Schläfe bis zur Hüfte und hatte ihn bis zu den Eingeweiden aufgerissen.
»Ich bin abgestürzt«, sagte er nur.
»Bis hier unten?« sagte Howie und staunte über die
Tatsache, daß der Mann überhaupt stehen konnte.
»Nein. Ich bin alleine heruntergekommen.«
»Wie?«
»Das war leicht«, antwortete Byrne. »Ich bin jetzt larvae.«
»Was?«
»Geist. Seele. Ich hatte gedacht, Sie hätten mich vielleicht 639
stürzen gesehen.«
»Nein.«
»Es war ein langer Sturz, aber er fand ein gutes Ende. Ich glaube nicht, daß schon einmal jemand auf der Ephemeris gestorben ist. Das heißt, ich bin der einzige. Ich kann meine eigenen Regeln aufstellen. Spielen, wie ich will. Und ich dachte mir, ich sollte zurückkommen und Howie helfen...«
Seine besessene Hitzköpfigkeit war einer ruhigen Autorität gewichen. »Sie müssen sich beeilen«, sagte er. »Ich verstehe plötzlich eine ganze Menge, und die Nachrichten sind nicht gut.«
»Etwas geht hier vor, nicht?«
»Die Iad«, sagte Byrne. »Sie kommen über die Essenz her-
über.« Ausdrücke, die er vor Minuten noch nicht gekannt hatte, kamen ihm nun vertraut über die Lippen.
»Was sind die Iad?« fragte Howie.
»Unbeschreiblich böse«, sagte Byrne, »daher werde ich es gar nicht erst versuchen.«
»Auf dem Weg in den Kosm?«
»Ja. Vielleicht können Sie vor ihnen dort sein.«
»Wie?«
»Vertrauen Sie dem Meer. Es will, was Sie wollen.«
»Und das wäre?«
»Sie, draußen«, sagte Byrne. »Also gehen Sie. Rasch.«
»Schon verstanden.«
Byrne trat beiseite, um Howie durchzulassen. Er hielt Howie mit der heilen Hand fest.
»Sie wollten wissen...«, sagte er.
»Was?«
»Was auf dem Berg ist. Es ist wunderbar.«
»Lohnt es sich, dafür zu sterben?«
»Hundertmal.«
Er ließ Howie los.
»Das freut mich.«
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»Wenn die Essenz überlebt«, sagte Byrne. »Wenn Sie überleben, suchen Sie nach mir. Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen reden.«
»Das werde ich«, sagte Howie und eilte so schnell den Hang hinunter, wie er konnte, und sein Abstieg schwankte zwischen Ungeschicktem und Selbstmord. Sobald er glaubte, in
Hörweite zu sein, rief er Jo-Beths Namen, aber seine Rufe blieben ungehört. Der blonde Kopf sah nicht von seinen Studien auf. Vielleicht war das Dröhnen der Wellen lauter als er. Er kam stolpernd, verschwitzt und benommen zum Strand hinunter und lief ihr entgegen.
»Jo-Beth! Ich bin es! Jo-Beth!«
Diesesmal hörte sie ihn und sah auf. Obwohl noch ein paar Meter zwischen ihnen lagen, konnte er den Grund für ihr Stolpern sehen. Er bremste entsetzt ab, merkte aber kaum, daß er es tat. Die Essenz hatte an ihr gearbeitet. Das Gesicht, in das er sich in Butrick's Steak House verliebt hatte, das Gesicht, nach dessen Anblick er sein Leben neu datierte, war eine Masse dorniger Auswüchse, die an Hals und Armen hinabliefen. Es folgte ein Augenblick, den er sich nie ganz verzeihen sollte, als er sich wünschte, sie würde ihn nicht erkennen, so daß er an ihr vorübergehen konnte. Aber sie erkannte ihn, und die Stimme, die ihn hinter der Maske ansprach, war dieselbe, die ihm ihre Liebe gestanden hatte.
Jetzt sagte sie: »Howie... hilf mir...«
Er breitete die Arme aus und ließ sie zu sich kommen. Ihr Körper war fiebrig und schlotterte.
»Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen«, sagte sie und hielt die Hände vors Gesicht.
»Ich hätte dich nicht im Stich gelassen.«
»Wenigstens können wir jetzt zusammen sterben.«
»Wo ist Tommy-Ray?«
»Fort«, sagte sie.
»Wir müssen auch fort«, sagte er. »So schnell wie möglich 641
von der Insel verschwinden. Etwas Schreckliches ist auf dem Weg.«
Sie wagte es, zu ihm aufzusehen, und ihre Augen waren so klar und blau wie immer und sahen ihn an wie leuchtende Juwelen im Schlamm. Als er sie erblickte, zog er sie fester an sich, als wollte er ihr - und sich selbst - beweisen, daß er den Schrecken gemeistert hatte. Aber das hatte er nicht. Ihre Schönheit hatte ihm als erstes die Fassung geraubt. Jetzt war sie dahin. Er mußte durch
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