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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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wieder. Keine körperlichen Leiden, sagten sie. Gesundes Herz, gesunde Lungen, gesunde
    Wirbelsäule. Zwischen den Ohren war sie krank. Aber das wollte Mama nicht hören. Mama hatte einmal ein Mädchen gekannt, das wahnsinnig geworden und in ein Krankenhaus gebracht worden war, aus dem sie nie wieder herauskam.
    Deshalb hatte sie vor dem Wahnsinn mehr Angst als vor allem anderen. Sie duldete nicht, daß das Wort in ihrem Haus auch nur ausgesprochen wurde.
    »Sagst du dem Pastor, daß er mich anrufen soll?« sagte Joyce. »Vielleicht kommt er heute abend her.«
    »Es ist ein sehr beschäftigter Mann, Mama.«
    »Für mich ist er nicht zu beschäftigt«, sagte Joyce. Sie war neununddreißig Jahre alt, benahm sich aber wie eine doppelt so alte Frau. Sie hob den Kopf stets langsam vom Kissen, als wäre jeder Zentimeter ein Triumph für die Schwerkraft; ihre Hände und Lider zitterten; in ihrer Stimme schwang ein ständiges Seufzen mit. Sie hatte sich selbst die Rolle einer Bilderbuch-Schwindsüchtigen zugedacht, und davon ließ sie sich durch bloße medizinische Gutachten nicht abbringen. Sie kleidete sich, dieser Rolle entsprechend, in Krankenzimmer-Pastellfarben; sie ließ ihr Haar, das brünett war, lang wachsen und nicht modisch frisieren oder hochstecken. Sie legte kein Make-up auf, was den Eindruck einer Frau, die am Rand des Abgrunds wankt, weiter betonte. Alles in allem war Jo-Beth froh, daß Mama sich nicht mehr in der Öffentlichkeit sehen ließ. Die Leute würden reden. Aber dafür war sie hier, im Haus, und rief ihre Tochter die Treppe hinauf und hinunter, hinauf und hinunter.
    Wenn Jo-Beths Zorn, so wie jetzt, das Ausmaß erreichte, daß sie schreien mochte, dann vergegenwärtigte sie sich, daß Mama ihre Gründe für diese Zurückgezogenheit hatte. Das Leben als 131
    ledige Mutter, die ihr Kind in einer so kritischen Gemeinde wie dem Grove alleine großzog, war nicht leicht gewesen. Ihr Zustand war die Folge von Bevormundung und Demütigungen.
    »Ich sage Pastor John, daß er dich anrufen soll«, sagte Jo-Beth. »Hör zu, Mama, ich muß gehen.«
    »Ich weiß, Liebes, ich weiß.«
    Jo-Beth drehte sich zur Tür um, aber Joyce rief ihr nach.
    »Kein Kuß?« sagte sie.
    »Mama...«
    »Du küßt mich sonst immer.«
    Jo-Beth ging pflichtschuldig zum Fenster zurück und küßte ihre Mutter auf die Wange.
    »Gib auf dich acht«, sagte Joyce.
    »Mir geht es gut.«
    »Es gefällt mir nicht, wenn du so spät arbeitest.«
    »Hier ist nicht New York, Mama.«
    Joyce sah zum Fenster, durch das sie die Welt beobachtete.
    »Einerlei«, sagte sie mit düsterer Stimme. »Man ist nirgends sicher.«
    Das waren altbekannte Worte. Jo-Beth hatte sie in der einen!
    oder anderen Version seit ihrer Kindheit gehört. Die Welt war ein Teil des Todes, das von Gesichtern heimgesucht wurde, die zu unaussprechlichem Bösen fähig waren. Das war der hauptsächliche Trost, den Pastor John Mama gab. Sie waren sich darin einig, daß der Teufel auf der Welt war; in Palomo Grove.
    »Wir sehen uns morgen früh«, sagte Jo-Beth.
    »Ich hab' dich lieb, Kleines.«
    »Ich dich auch, Mama.«
    Jo-Beth machte die Tür auf und ging nach unten.
    »Schläft sie?«
    Tommy-Ray stand unten an der Treppe.
    »Nein.«
    »Verdammt.«
    »Du sollstest reingehen und nach ihr sehen.«
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    »Das weiß ich. Aber sie wird mir wegen Mittwoch die Hölle heiß machen.«
    »Du warst betrunken«, sagte sie. »Schnaps, das hat sie mehrmals gesagt. Stimmt das?«
    »Was glaubst du denn? Wenn wir wie normale Kinder
    aufgezogen worden wären, mit Alkohol im Haus, wäre es mir nicht so sehr zu Kopf gestiegen.«
    »Also ist es ihre Schuld, daß du betrunken warst?«
    »Du mußt auch noch auf mir herumhacken, was? Scheiße, jeder hackt auf mir herum.«
    Jo-Beth lächelte und legte ihrem Bruder die Arme um die Schultern. »Nein, Tommy, ganz und gar nicht. Alle denken, daß du toll bist, das weißt du doch.«
    »Du auch?«
    »Ich auch.«
    Sie küßte ihn sachte, dann ging sie zum Spiegel und
    überprüfte ihr Äußeres.
    »Bildschön«, sagte er und trat neben sie. »Wir beide.«
    »Dein Ego«, sagte sie, »wird immer schlimmer.«
    »Darum liebst du mich ja«, sagte er und betrachtete ihre beiden Spiegelbilder. »Werde ich dir immer ähnlicher, oder du mir?«
    »Keins von beidem.«
    »Schon mal zwei Gesichter gesehen, die sich ähnlicher sind?«
    Sie lächelte. Sie hatten wirklich eine außergewöhnliche Ähnlichkeit. Tommy-Rays zierlicher Körperbau paßte zu ihrer Zerbrechlichkeit.

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