Jenseits des Bösen
Sie mochte nichts lieber, als Hand in Hand mit ihrem Bruder spazierenzugehen, weil sie wußte, sie hatte einen Begleiter neben sich, wie ihn sich kein Mädchen attraktiver wünschen konnte, und sie wußte, daß er ebenso empfand.
Sogar die erzwungenen Schönheiten des Venice Strandwegs drehten die Köpfe nach ihnen um.
Aber in den vergangenen Monaten waren sie nicht
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zusammen ausgegangen. Sie hatte Spätschicht im Steak House gehabt, er war mit seinen Kumpels am Strand gewesen: Sean, Andy und der Rest. Der Kontakt fehlte ihr.
»Hast du dich in den vergangenen Tagen manchmal seltsam gefühlt?« fragte er plötzlich unvermittelt.
»Inwiefern seltsam?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich liegt es nur an mir. Ich fühle mich, als würde alles dem Ende entgegengehen.«
»Der Sommer steht vor der Tür. Alles fängt erst an.«
»Ja, ich weiß... aber Andy ist aufs College. Sean hat eine Freundin in L. A., die er eifersüchtig hütet. Ich weiß nicht. Ich muß hier warten, aber ich habe keine Ahnung, worauf.«
»Dann mach es eben nicht!«
»Was?«
»Warten. Fahr irgendwohin.«
»Das würde ich gerne. Aber...« Er studierte ihr Gesicht im Spiegel. »Stimmt es? Du fühlst dich nicht... seltsam?«
Sie erwiderte seinen Blick, war aber nicht sicher, ob sie zugeben wollte, daß sie merkwürdige Träume hatte, in denen sie von der Flut fortgespült wurde und ihr ganzes Leben ihr vom Ufer zuwinkte. Aber wenn sie sich nicht Tommy
anvertraute, den sie liebte und dem sie mehr als jedem anderen Wesen vertraute, wem dann?
»O. K. Ich gebe es zu«, sagte sie. »Ich spüre etwas.«
»Was?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht warte ich auch.«
»Weißt du, worauf?«
»Nee.«
»Ich auch nicht.«
»Sind wir nicht ein tolles Paar?«
Sie dachte über die Unterhaltung mit Tommy nach, während sie zum Einkaufszentrum fuhr. Er hatte, wie immer, ihre 134
gemeinsamen Empfindungen in Worte gefaßt. Die
vergangenen paar Wochen waren mit Erwartung aufgeladen gewesen. Bald würde etwas geschehen. Ihre Träume wußten das. Ihr Innerstes wußte es. Sie hoffte, daß es sich nicht verspätete, denn sie stand kurz vor dem Punkt, an dem sie die Geduld verlieren würde - mit Mama, dem Grove, ihrem Job im Steak House. Es war ein Wettlauf zwischen der Zündschnur ihrer Selbstbeherrschung und dem Etwas am Horizont. Wenn es bis zum Sommer nicht eingetroffen war - was immer es war, und wie unwahrscheinlich auch immer - würde sie sich
aufmachen und danach suchen.
2
Howie fiel auf, daß in dieser Stadt kaum jemand zu Fuß zu gehen schien. Während seines dreiviertelstündigen
Spaziergangs den Hügel hinauf und hinunter war er nur fünf Fußgängern begegnet, und alle hatten Hunde oder Kinder im Schlepptau gehabt, um ihren Müßiggang zu rechtfertigen. So kurz sein Ausflug war, er führte ihn doch zu einem schönen Aussichtspunkt, wo er sich ein Bild von der Anlage der Stadt machen konnte. Und er machte ihn hungrig.
Fleisch für den Desperado, dachte er und entschied sich von allen Restaurants im Einkaufszentrum für Butrick's Steak House. Es war nicht groß und kaum mehr als halb voll. Er setzte sich an einen Tisch am Fenster, schlug eine zerlesene Ausgabe von Hesses Siddharta auf und setzte seinen Kampf mit dem Text fort, einer deutschen Originalausgabe. Das Buch hatte seiner Mutter gehört, die es viele Male gelesen hatte -
obwohl er sich nicht erinnern konnte, daß sie jemals ein Wort in der Sprache ausgesprochen hatte, die sie offenbar fließend beherrschte. Er nicht. Das Buch zu lesen war wie ein inneres Stottern; er suchte nach dem Sinn, fand ihn und verlor ihn 135
gleich wieder.
»Etwas zu trinken?« fragte ihn die Kellnerin.
Er wollte gerade ›Coke‹ sagen, als sich sein ganzes Leben änderte.
Jo-Beth trat über die Schwelle von Butrick's, wie sie es die letzten sieben Monate über drei Abende pro Woche getan hatte, aber heute war es, als wäre das alles lediglich eine Probe für das heutige Eintreten gewesen; das Umdrehen; den
Augenkontakt mit dem jungen Mann, der an Tisch fünf saß. Sie studierte ihn mit einem einzigen Blick. Sein Mund war halb offen. Er trug eine Nickelbrille. Er hatte ein Buch in der Hand.
Den Namen des jungen Mannes wußte sie nicht, konnte sie nicht wissen. Sie hatte ihn vorher noch nie gesehen. Und doch sah er sie mit demselben Ausdruck des Wiedererkennens an, den sie, wie sie wußte, ebenfalls zur Schau stellte. Dieses Gesicht zu sehen, dachte er, war, als würde er neu
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