Jenseits des Bösen
leicht gehabt. Seine Tirade gegen die Stadt war Narzißmus; er war in sich selbst als Rebell verliebt. Und damit verdarb er ihr einen Morgen, den sie genießen wollte.
»Wir reden heute abend, Tommy«, sagte sie.
»Ja?«
»Das habe ich eben gesagt.«
»Wir müssen einander helfen.«
»Ich weiß.«
»Besonders jetzt.«
Er war plötzlich ruhig, als wäre die gesamte Wut mit einem einzigen Atemzug aus ihm entwichen, und damit seine Energie.
»Ich habe Angst«, sagte er ganz leise.
»Du mußt keine Angst haben, Tommy. Du bist nur müde.
Du solltest heimgehen und schlafen.«
»Ja.«
Sie waren beim Einkaufszentrum angekommen. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, das Auto zu parken. »Fahr nach Hause«, sagte sie. »Lois wird mich heute abend heimbringen.«
Als sie aus dem Auto aussteigen wollte, hielt er sie fest und 157
packte sie so heftig, daß es weh tat.
»Tommy...«, sagte sie.
»War das dein Ernst?« sagte er. »Ich muß keine Angst haben?«
»Nein«, sagte sie.
Er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen.
»Ich vertraue dir«, sagte er und hielt die Lippen ganz dicht an ihre. Sie konnte nur sein Gesicht sehen; er hielt mit der Hand ihren Arm, als wäre sie sein Eigentum.
»Genug, Tommy«, sagte sie und riß sich los. »Geh nach Hause.«
Sie stieg aus, schlug die Autotür heftig zu und drehte sich ganz bewußt noch einmal um.
»Jo-Beth.«
Howie stand vor ihr. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, als sie ihn nur ansah. Hinter sich hörte sie ein Auto hupen, drehte sich um und stellte fest, daß Tommy-Ray nicht losgefahren war; er versperrte mehreren anderen Fahrzeugen den Weg. Er sah sie an, griff zur Tür, stieg aus. Das Hupen wurde lauter. Jemand schrie ihn an, er solle wegfahren, aber er achtete nicht darauf. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Jo-Beth. Es war zu spät, Howie ein Zeichen zu geben, daß er verschwinden soll. Tommy-Rays Gesichtsausdruck machte deutlich, daß ihm Howies Begrüßungslächeln alles gesagt hatte.
Sie sah zu Howie und empfand äscherne Verzweiflung.
»Sieh mal einer an«, hörte sie Tommy-Ray hinter sich sagen.
Es war mehr als Verzweiflung: Es war Angst.
»Howie...«, begann sie.
»Herrgott, war ich dumm«, fuhr Tommy-Ray fort.
Sie versuchte zu lächeln, als sie sich zu ihm umdrehte.
»Tommy«, sagte sie, »darf ich dir Howie vorstellen.«
Sie hatte Tommys Gesicht noch niemals so gesehen wie
jetzt; hatte keine Ahnung gehabt, daß die vergötterten Züge zu einer solchen Bösartigkeit fähig waren.
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»Howie?« fragte er. »Wie Howard?«
Sie nickte und sah Howie wieder an. »Das ist mein Bruder«, sagte sie. »Mein Zwillingsbruder. Howie, das ist Tommy-Ray.«
Beide Männer gingen einen Schritt vor, um sich die Hände zu schütteln, wodurch sie gleichzeitig in ihr Gesichtsfeld traten.
Die Sonne schien gleichermaßen auf beide, aber sie
schmeichelte Tommy-Ray nicht, trotz seiner Bräune. Unter dem gesunden Äußeren, das er zur Schau stellte, wirkte er krank; die Augen eingesunken und stumpf, die Haut zu straff über Wangenknochen und Schläfen gespannt. Er sieht tot aus, dachte sie. Tommy-Ray sieht tot aus.
Howie streckte die Hand aus, aber Tommy-Ray achtete nicht darauf und wandte sich unvermittelt an seine Schwester.
»Später«, hauchte er kaum hörbar.
Sein Murmeln wurde beinahe vom Toben der Beschwerden
hinter ihm übertönt, aber sein drohender Tonfall entging ihr nicht. Nachdem er gesprochen hatte, drehte er sich um und ging zum Wagen zurück. Sie konnte sein einnehmendes
Lächeln nicht sehen, aber sie konnte es sich vorstellen. Mr.
Sonnenschein, der die Arme in spöttischer Unterwürfigkeit hob und wußte, daß seine Gegner keine Hoffnung hatten.
»Was sollte das?« fragte Howie.
»Weiß ich auch nicht genau. Er ist seltsam seit...«
Sie wollte sagen, seit gestern, aber sie hatte vor wenigen Augenblicken einen Makel seiner Schönheit gesehen, der schon immer dagewesen sein mußte, nur hatte sie ihn - wie der Rest der Welt - in ihrer Faszination nicht sehen können.
»Braucht er Hilfe?« fragte Howie.
»Ich denke, wir lassen ihn am besten in Ruhe.«
»Jo-Beth!« rief jemand. Eine Frau in mittleren Jahren kam auf sie zu, deren Kleidung - wie das Gesicht - bis zur Unscheinbarkeit schlicht waren.
»War das Tommy-Ray?« fragte sie, während sie näher kam.
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»Ja.«
»Er bleibt nie länger.« Sie blieb einen Meter von Howie entfernt stehen und betrachtete ihn mit einem etwas verwirrten Gesichtsausdruck. »Kommst du in den
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