Jenseits des Bösen
er.
»Und was?«
»Sprich.«
»Tommy?« Sein aufgebrachtes Verhalten ging ihr auf die Nerven. »Was ist denn mit dir los?«
»Ich habe dich gehört«, sagte er. »Ich habe dich die ganze Nacht hindurch gehört. Gestern nacht ist etwas mit dir geschehen, nicht?«
Er konnte nichts von Howie wissen. Nur Beverly hatte eine Ahnung, was gestern abend im Steak House geschehen war, und sie hätte noch keine Zeit gehabt, Gerüchte in die Welt zu 154
setzen, selbst wenn sie die Absicht gehabt hätte, was unwahrscheinlich war. Sie hatte eigene Geheimnisse, die sie gewahrt wissen wollte. Außerdem, was gab es schon zu
erzählen? Daß sie einem Kunden schöne Augen gemacht hatte?
Daß sie ihn auf dem Parkplatz geküßt hatte? Sollte das für Tommy-Ray eine Rolle spielen?
»Gestern nacht ist etwas geschehen«, wiederholte er. »Ich habe eine Art Veränderung gespürt. Aber worauf immer wir gewartet haben... zu mir ist es nicht gekommen. Also muß es zu dir gekommen sein, Jo-Beth. Was immer es ist, es ist zu dir gekommen.«
»Schenkst du mir einen Kaffee ein?«
»Antworte mir.«
»Was?«
»Was ist passiert?«
»Nichts.«
»Du lügst«, sagte er mehr verblüfft als erbost. »Warum lügst du mich an?«
Das war eine berechtigte Frage. Sie schämte sich nicht wegen Howie oder dem, was sie für ihn empfand. Sie hatte jeden Sieg und jede Niederlage ihrer achtzehn Jahre mit Tommy-Ray geteilt. Er würde das Geheimnis weder Mama
noch Pastor John verraten. Aber er warf ihr seltsame Blicke zu; sie konnte sie nicht richtig deuten. Und dann das Gerede, daß er sie die ganze Nacht hindurch gehört hatte. Hatte er an der Tür gelauscht?
»Ich muß ins Geschäft«, sagte sie. »Sonst komme ich
wirklich zu spät.«
»Ich komme mit dir«, sagte er.
»Weshalb?«
»Nur mitfahren.«
»Tommy...«
Er lächelte sie an. »Was ist schlimm daran, wenn du deinen Bruder mitnimmst?« sagte er. Sie hätte sich fast von der 155
Vorstellung überzeugen lassen, bis sie zustimmend nickte und sah, wie das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand.
»Wir müssen einander vertrauen«, sagte er, als sie im Auto und unterwegs waren. »Wie immer.«
»Das weiß ich.«
»Weil wir gemeinsam stark sind, richtig?« Er sah mit glasigen Augen zum Fenster hinaus. »Und momentan muß ich mich stark fühlen.«
»Du mußt dich mal wieder richtig ausschlafen. Soll ich dich zurückfahren? Es ist mir gleich, ob ich zu spät komme.«
Er schüttelte den Kopf. »Kann das Haus nicht ausstehen«, sagte er.
»Wie kannst du so etwas sagen.«
»Es stimmt. Wir können es beide nicht ausstehen. Es macht mir Alpträume.«
»Das ist nicht das Haus, Tommy.«
»Doch. Das Haus und Mama und diese verfluchte Stadt!
Sieh dich doch um!« Plötzlich hatte er unvermittelt einen Wutanfall. »Sieh dir diese Scheiße an! Willst du nicht auch den ganzen verfluchten Ort dem Erdboden gleichmachen?« In dem engen Auto war seine Lautstärke nervenzerfetzend. »Ich weiß es«, sagte er und sah sie mit jetzt wilden und aufgerissenen Augen an. »Lüg mich nicht an, kleine Schwester.«
»Ich bin nicht deine kleine Schwester, Tommy«, sagte sie.
»Ich bin fünfunddreißig Sekunden älter«, sagte er. Das war immer ein Scherz zwischen ihnen gewesen. Und plötzlich war es zum Machtspiel geworden. »Fünfunddreißig Sekunden
länger in diesem Scheißloch.«
»Hör auf, dummes Zeug zu reden«, sagte sie und brachte das Auto ruckartig zum Stillstand. »Ich muß mir das nicht anhören.
Du kannst aussteigen und zu Fuß gehen.«
»Soll ich auf der Straße schreien?« sagte er. »Das mache ich.
Glaub mir. Ich schreie, bis ihre beschissenen Häuser einstürzen!«
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»Du benimmst dich wie ein Arschloch!« sagte sie.
»Nun, das ist ein Wort, das ich nicht so oft von dir höre«, sagte er voll verschmitzter Befriedigung. »Heute morgen sind wir beide nicht ganz wir selbst.«
Er hatte recht. Sie ließ sich von seinem Wutausbruch reizen wie noch niemals zuvor. Sie waren Zwillinge und sich in vielerlei Hinsicht ähnlich, aber er war immer der unverhohlen rebellischere gewesen. Sie hatte die folgsame Tochter gespielt und die Verachtung verborgen, die sie gegenüber der
Scheinheiligkeit des Grove empfand, deren Opfer Mama war und dessen Billigung sie doch so sehr brauchte. Manchmal beneidete sie Tommy-Ray um seine unverhohlene Verachtung und hätte Widersachern gerne so wie er ins Gesicht gespuckt, mit dem Wissen, daß nach einem Lächeln alles verziehen wurde. Er hatte es all die Jahre
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