Jenseits des Bösen
dem tieferen Wasser interpretieren konnte. Es waren keine Freudenschreie mehr, sondern Angstschreie. Er hob den Kopf vom Boden. Die beiden Schwimmerinnen am
weitesten draußen strampelten in der Luft und reckten die Gesichter himmelwärts.
»Mein Gott«, sagte er.
Sie ertranken. Vor Augenblicken hatte er sie Gespenster genannt, ohne daran zu denken, was der Name bedeutete. Nun sah er die schreckliche Wahrheit. Die Badenden waren in diesem Wasser zu Schaden gekommen. Er hatte Toten
nachspioniert.
Von Abscheu vor sich selbst erfüllt, wollte er sich entfernen, 149
aber eine perverse Verpflichtung gegenüber dieser Tragödie hielt ihn fest.
Inzwischen waren alle vier vom selben Strudel erfaßt, schlugen heftig in der Luft um sich und bekamen immer dunklere Gesichter, während sie nach Luft rangen. Wie war das möglich? Es sah aus, als würden sie in eineinhalb Meter tiefem Wasser ertrinken. Hatte eine Strömung sie ergriffen? Das schien in so flachem und so ruhigem Wasser unwahrscheinlich.
»Helft ihnen...«, hörte er sich selbst sagen. »Warum hilft ihnen denn niemand?«
Er ging auf sie zu, als könnte er sie selbst unterstützen.
Arleen war ihm am nächsten. Die Schönheit war aus ihrem Gesicht gewichen. Es wurde von Verzweiflung und Entsetzen verzerrt. Plötzlich schienen ihre aufgerissenen Augen etwas im Wasser unter ihren Füßen zu sehen. Sie hörte auf, sich zu wehren, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck vollkommener Unterwerfung an. Sie gab das Leben auf.
»Nicht«, murmelte Buddy und griff nach ihr, als könnten Arme sie aus der Vergangenheit heben und wieder ins Leben tragen. In dem Augenblick, als er Körperkontakt mit dem Mädchen hatte, wußte er, daß die Sache für sie beide fatal enden würde. Aber sein Bedauern kam zu spät. Der Boden unter ihnen bebte. Er sah nach unten. Dort erblickte er nur eine dünne Erdschicht, in der kümmerliches Gras wuchs. Unter dem Boden grauer Fels; oder war es Beton? Ja! Beton! Hier war ein Loch im Boden versiegelt worden, aber das Siegel brach vor seinen Augen; der Beton bekam immer breitere Risse. Er sah zum Ufer des Sees und festem Boden zurück, aber zwischen ihm und der Sicherheit hatte sich bereits ein Spalt aufgetan, in den einen Meter von seinen Zehen entfernt ein Stück Beton verschwand. Eisige Luft stieg von unten empor.
Er sah zu den Schwimmenden, aber die Fata Morgana verblaßte. Er sah auf allen vier Gesichtern denselben Ausdruck; nach hinten gedrehte Augen, in denen nur noch das Weiß zu 150
sehen war, und offene Münder, die bereitwillig den Tod tranken. Sie waren nicht in flachem Wasser gestorben, wurde ihm jetzt klar. Als sie zum Schwimmen hierhergekommen waren, war dies eine Grube gewesen, die die Mädchen
verschluckt hatte, wie sie nun ihn verschlucken würde: sie mit Wasser, ihn mit Trugbildern.
Er fing an, um Hilfe zu schreien, als der Boden immer stärker bebte und der Beton zwischen seinen Füßen zu Staub zermalmt wurde. Vielleicht würde ihn ein anderer
frühmorgendlicher Jogger hören und ihm zu Hilfe eilen. Aber schnell; es mußte schnell sein.
Sollte das ein Witz sein? Ausgerechnet von ihm, einem Witzereißer. Niemand würde kommen. Er würde sterben.
Wegen seiner Geilheit würde er sterben.
Die Spalte zwischen ihm und dem sicheren Boden war deutlich breiter geworden, aber er hatte nur eine Hoffnung auf Rettung, nämlich zu springen. Er mußte sich beeilen, bevor der Beton unter ihm in die Tiefe stürzte und ihn mit sich riß. Jetzt oder nie.
Er sprang. Und es war ein guter Sprung. Ein paar Zentimeter mehr, und er hätte es geschafft. Aber die paar waren entscheidend. Er griff in die Luft, verfehlte sein Ziel, und fiel.
Eben noch schien ihm die Sonne auf den Kopf. Im nächsten Augenblick Dunkelheit, eisige Dunkelheit, durch die er von Betonbrocken, die wie er nach unten stürzten, begleitet fiel. Er hörte, wie sie gegen Felsvorsprünge schlugen, doch dann wurde ihm klar, daß er dieses Geräusch erzeugte. Er konnte hören, wie seine Knochen und der Rücken brachen, während er stürzte. Und stürzte und stürzte.
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2
Der Tag fing für Howie früher an, als ihm nach so wenig Schlaf lieb war; aber als er aufgestanden war und seine Übungen machte, freute er sich, daß er wach war. Es wäre ein Verbrechen gewesen, an einem so schönen Morgen im Bett liegen zu bleiben. Er holte sich ein Mineralwasser aus dem Getränkeautomaten und setzte sich ans Fenster, wo er den Himmel betrachtete und überlegte, was der Tag bringen
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