Jenseits des Bösen
erneut über die
Möglichkeiten, wobei Jose Luis taktvoll die wahrscheinlichste unausgesprochen ließ: daß Buddy unterwegs einer Frau
begegnet war. Er war seit sechzehn Jahren im Dienst von Mr.
Vance und wußte: Die Fähigkeiten seines Bosses bei Frauen grenzten ans Übernatürliche. Er würde nach Hause kommen, wenn er seine Magie gewirkt hatte.
Buddy empfand keine Schmerzen. Dafür war er dankbar, aber er gab sich keiner Täuschung hin, was das zu bedeuten hatte.
Sein Körper war sicherlich so zerschmettert, daß das Gehirn einfach vor Schmerzen einen Kurzschluß bekommen und
sämtliche Stecker herausgezogen hatte.
Die Dunkelheit, die ihn umgab, war ohne Eigenheiten; sie machte ihn nur wirkungsvoll blind. Vielleicht waren auch seine Augen nicht mehr da, auf dem Weg nach unten aus dem Kopf herausgeplatzt. Was immer der Grund sein mochte, er
schwebte frei von Empfindungen oder Augenlicht, und
während er schwebte, überlegte er. Zuerst, wie lange Luis brauchen würde, bis er merkte, daß sein Boß nicht nach Hause kommen würde: höchstens zwei Stunden. Sein Weg durch den Wald würde nicht schwer zu verfolgen sein; und wenn sie die Spalte gefunden hatten, würden sie sich denken können, in 163
welcher Gefahr er schwebte. Bis zum Nachmittag würden sie auf der Suche nach ihm heruntergestiegen sein. Am
Spätnachmittag würden sie ihn wieder oben haben, wo seine Verletzungen versorgt werden würden.
Vielleicht war es schon Mittag.
Er konnte das Verrinnen der Zeit nur anhand seines eigenen Herzschlags abschätzen, den er im Kopf hören konnte. Er fing an zu zählen. Wenn er ein Gefühl dafür bekommen konnte, wie lange eine Minute dauerte, konnte er sich an diese Zeitspanne halten und würde nach sechzig solcher Spannen wissen, daß er eine Stunde gelebt hatte. Aber er hatte kaum angefangen zu zählen, da fing sein Kopf eine ganz andere Rechnung an.
Wie lange habe ich gelebt, dachte er. Nicht geatmet, nicht existiert, sondern tatsächlich gelebt? Vierundfünfzig Jahre seit meiner Geburt: Wie viele Wochen waren das? Wie viele
Stunden? Vielleicht sollte man es Jahr für Jahr aufrollen; das war einfacher. Ein Jahr hatte dreihundertsechzig Tage, plus minus ein paar. Angenommen, er hatte ein Drittel davon geschlafen. Hundertzwanzig Tage im Schlummerland. O Gott, die Augenblicke schwanden bereits. Eine halbe Stunde täglich auf dem Klo oder beim Pinkeln. Das machte wieder
siebeneinhalb Tage im Jahr, nur für Ausscheidung. Und Duschen und Rasieren noch einmal zehn Tage; Essen wieder dreißig oder vierzig; das alles mit vierundfünfzig Jahren multipliziert...
Er fing an zu schluchzen. Holt mich hier raus, murmelte er, bitte, lieber Gott, bring mich von hier weg, und ich werde leben, wie ich noch nie gelebt habe, ich werde jede Stunde, jede Minute - sogar beim Schlafen oder Scheißen - versuchen zu verstehen, damit ich nicht mehr so hilflos bin, wenn die nächste Dunkelheit kommt.
Um elf stieg Luis ins Auto und fuhr den Hügel hinab, um zu sehen, ob er den Boß irgendwo auf der Straße finden konnte.
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Da das erfolglos blieb, fuhr er zum Food Stop im
Einkaufszentrum, wo sie ein Sandwich zu Ehren von Mr.
Vance getauft hatten - das schmeichelnderweise fast nur aus Fleisch bestand -, dann zum Schallplattenladen, wo der Boß ab und zu Platten im Gesamtwert von tausend Dollar kaufte.
Während er sich mit Ryder, dem Besitzer, unterhielt, kam ein Kunde herein und erzählte jedem, den es interessierte, daß in East Grove die Kacke ernsthaft am Dampfen war, ob
möglicherweise jemand erschossen wurde?
Bis Luis eintraf, war die Straße zum Wald für den Verkehr gesperrt, ein Polizist leitete den Verkehr um.
»Kein Durchkommen«, sagte er zu Luis. »Die Straße ist gesperrt.«
»Was ist passiert? Wer ist erschossen worden?«
»Niemand ist erschossen worden. Nur ein Riß in der Straße.«
Inzwischen war Luis aus dem Auto ausgestiegen und sah an den Polizisten vorbei in den Wald.
»Mein Boß«, sagte er und wußte, daß er nicht aussprechen mußte, wem die Limousine gehörte, »ist heute morgen hier gelaufen.«
»Und?«
»Er ist nicht zurückgekommen.«
»O Scheiße. Folgen Sie mir.«
Sie gingen schweigend zwischen den Bäumen dahin, nur ab und zu kamen kaum verständliche Botschaften über das
Funkgerät des Polizisten, auf die er aber gar nicht achtete, bis sich das Dickicht zu einer Lichtung öffnete. Mehrere Polizisten stellten Absperrungen auf, die verhindern sollten, daß jemand dorthinging, wohin
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