Jenseits des Bösen
Wie auch immer, Jo-Beths Leben war verwirkt. Der Jaff klopfte wieder an die Tür.
»Tochter?« sagte er.
»Antworte ihm«, befahl Mama ihr.
»Tochter?«
»Ja...«
»Fürchtest du um dein Leben? Ehrlich. Sag es mir ehrlich.
Denn ich habe dich aufrichtig lieb und will nicht, daß dir ein Leid geschieht.«
»Sie fürchtet um ihr Leben«, sagte Mama.
»Laß sie antworten«, sagte der Jaff.
Jo-Beth zögerte nicht mit der Antwort. »Ja«, sagte sie. »Ja.
Sie hat ein Messer und...«
»Du wärst eine Närrin«, sagte der Jaff zu Mama, »das einzige zu töten, das dein Leben lebenswert gemacht hat. Aber du würdest es tun, nicht?«
»Ich werde sie dir nicht überlassen«, sagte Mama.
Schweigen auf der anderen Seite der Tür. Dann sagte der Jaff: »Meinetwegen...« Er lachte leise. » Es gibt immer ein Morgen.«
Er zerrte ein letztesmal an der Tür, als wollte er sich vergewissern, daß er tatsächlich ausgesperrt war. Dann hörten das Lachen und das Rasseln auf und wurden von einem leisen, kehligen Laut verdrängt, dem Stöhnen von etwas, das wußte, daß es geboren wurde, Schmerzen zu leiden und keine
Möglichkeit hatte, seinem Dasein zu entfliehen. Die Wehklage dieses Tons war ebenso furchteinflößend wie die
vorangegangenen Drohungen und Verführungen. Dann wurde es leiser.
»Er geht«, sagte Jo-Beth. Mama hielt immer noch das
Messer an ihren Hals. »Er geht, Mama. Laß mich wieder los.«
Die fünfte Stufe der zweiten Treppenflucht quietschte zweimal und bestätigte Jo-Beths Ahnung, daß ihre Peiniger das 223
Haus tatsächlich verließen. Aber es vergingen noch dreißig Sekunden, bis Mama Jo-Beths Arm losließ, und eine weitere Minute, bis sie ihre Tochter ganz freigab.
»Er hat das Haus verlassen«, sagte sie. »Aber bleib noch hier.«
»Was ist mit Tommy?« sagte Jo-Beth. »Wir müssen ihn finden.«
Mama schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß ich ihn verlieren würde«, sagte sie. »Es wäre zwecklos.«
»Aber wir müssen es versuchen«, sagte Jo-Beth.
Sie machte die Tür auf. Auf der anderen Seite lehnte etwas am Geländer, das nur Tommy-Rays Handarbeit sein konnte.
Als sie Kinder waren, hatte er Puppen im Dutzend für Jo-Beth gemacht, behelfsmäßige Spielzeuge, die dennoch seine
unverwechselbare Handschrift trugen. Sie lächelten immer.
Jetzt hatte er eine neue Puppe geschaffen; einen Vater, der aus Lebensmitteln bestand. Der Kopf ein Hamburger mit
Daumenabdrücken als Augen; Beine und Arme Gemüse; als Körper ein Milchkarton, dessen Inhalt zwischen den Beinen heruntertropfte, an einer Pfefferschote und zwei
Knoblauchknollen herab, die dort befestigt waren. Jo-Beth sah das grobe Ding an, dessen Fleischgesicht sie musterte.
Diesesmal kein Lächeln. Nicht einmal ein Mund. Nur zwei Löcher im Hackfleisch. Von den Lenden troff die Milch der Mannbarkeit herab und befleckte den Teppich. Mama hatte recht. Sie hatten Tommy-Ray verloren.
»Du hast gewußt, daß der Dreckskerl zurückkommen
würde«, sagte sie.
»Ich habe es vermutet; mit der Zeit. Nicht wegen mir. Er kam nicht wegen mir. Ich war nur eine verfügbare
Gebärmutter, wie wir alle...«
»Der Bund der Jungfrauen«, sagte Jo-Beth.
»Wo hast du das gehört?«
»O Mama... Die Leute haben geredet, seit ich ein Kind 224
war...«
»Ich habe mich so geschämt«, sagte Mama. Sie legte die Hand vors Gesicht, die andere, mit der sie noch das Messer hielt, hing herunter. »So sehr geschämt. Ich wollte mich selbst umbringen. Aber der Pastor hat mich davon abgehalten. Er sagte, ich müßte leben. Für den Herrn. Und für dich und Tommy-Ray.«
»Du mußt sehr stark gewesen sein«, sagte Jo-Beth und
wandte sich von der Puppe ab, um sie anzusehen. »Ich habe dich lieb, Mama. Ich weiß, ich habe gesagt, daß ich Angst hatte; aber du hättest mir nichts getan.«
Mama sah zu ihr auf; Tränen flossen unablässig aus ihren Augen und tropften vom Kinn herunter.
Ohne nachzudenken sagte sie: »Ich hätte dich mausetot gemacht.«
225
III
»Mein Feind ist immer noch hier«, sagte der Jaff.
Tommy-Ray hatte ihn auf einen Weg geführt, der
ausschließlich den Kindern des Grove bekannt war und der an der Rückseite des Hügels entlang zu einem
schwindelerregenden Aussichtspunkt führte. Er war zu felsig als Ausflugsziel und so instabil, daß man dort nicht bauen konnte, bot aber allen, die die Strapaze des Kletterns auf sich nahmen, einen einmaligen Ausblick über Laureltree und Windbluff.
Dort standen sie, Tommy-Ray und sein Vater, und
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