Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Adern in meinem Gehirn, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, doch wenn ich jetzt zusammensacke, packen sie mich.
Mit zitternden, feuchten Händen stütze ich mich auf den Müllcontainer, atme ein-aus-ein-aus-ein-aus und reiße die Augen auf, während sie mich mit Fragen zu Arndís überschütten. Zu Marokko. Zu Fatima. Wer ist Fatima? Nach der Aussprache zu urteilen, sind sie Araber, und auf einmal wird mir klar, woher ich einen von ihnen kenne. Mein Mund füllt sich mit Blutgeschmack, als ich ein leises Klicken höre, das wie das Geräusch eines aufklappenden Messers klingt, ich stottere: Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht …
Da erscheint Helgi mit einem Sicherheitsmann und einer Polizistin. Die Männer rennen davon. Ich sinke zusammen, in Zeitlupe, wie in einem Film.
*
Fatima. Natürlich. So hieß sie.
*
Sie hatte einmal meine Freundschaft zu Arndís gerettet. Das war zu der Zeit, als ich mich in einem Anfall von Dreistigkeit in eine Beziehung mit Jordi gewagt hatte, was die Schuldgefühle gegenüber meiner Mutter ins Unendliche wachsen ließ. Wenn das schlechte Gewissen mich am schlimmsten plagte, hielt ich es kaum mehr in der Nähe von Arndís aus, was sie bestimmt bemerkte, da ich jede freie Minuten mit Jordi verbrachte. Also machte sie ihr Ding: feierte mit den anderen Studenten, streifte durch die Straßen, um Spanisch und Katalanisch zu lernen, ging in die Museen, schrieb ihre Bachelor-Arbeit fertig und begann eine zweite, mit der sie bei den Historikern großen Eindruck machte. Sie besuchte alle möglichen Konzerte, gab makellose Spanisch-Hausaufgaben ab und schrieb ihrem Benni lange Briefe auf dem alten Computer, den sie spottbillig erstanden hatte.
Mit der Zeit wuchs ihr Interesse an dem Mädchen in dem marokkanischen Imbiss. Bald trafen sie sich regelmäßig an anderen Orten, Arndís erzählte oft von ihr, und zwar so begeistert, dass ich fürchtete, sie habe das Interesse an mir verloren.
Während sie mit den anderen Sprachstudenten unterwegs war, träumte ich von Jordi. Wenn sie hingegen bei Fatima war, bekam ich plötzlich das Gefühl, sie zu brauchen. Schließlich bat ich Jordi, ein paar Abende etwas alleine zu unternehmen, weil ich mich um meine Freundin kümmern wollte. Ich sollte es später bereuen.
Es wurden viele Abende.
Ich bemühte mich nach Kräften, mit ihr durch die Bars zu ziehen und auf Partys anderer Studenten zu gehen, was auch immer sich ergab. Fatima hatte mir einen Schreck eingejagt. Ich war ihr nur einmal in dem Imbiss begegnet, merkte aber schnell, dass sie bei Arndís denselben Helferreflex auslöste, den sie schon mir gegenüber verspürt hatte.
Alles, was Arndís mir von ihren gemeinsamen Unternehmungen erzählte, ließ mich spüren, dass sie eine neue Freundin gefunden hatte. Sie schien nur noch Fatima im Kopf zu haben, wollte so viel für sie tun, dass ich immer weniger begriff, worum es in ihrer Beziehung ging. Fatima verstand etwas von Dingen, von denen ich keine Ahnung hatte. Arndís nannte sie eine wahre Künstlerin, die mit einem unglaublichen Schönheitssinn gesegnet war. Fatima konnte nähen und vermochte es, Farben und Stoffe auf eine Art zu kombinieren, die ihnen auf wundersame, ungeahnte Weise ein neues Leben verlieh. Fatimas Talent schien Arndís sprachlos zu machen – sie, die schon vor langer Zeit aufgehört hatte, sich von irgendwas sprachlos machen zu lassen. Sie öffneten sich einander ganz und gar. Fatima begeisterte sich für Arndís’ Modegeschmack. Sie war beeindruckt davon, wie Arndís die angesagtesten Designer aufspürte und sie auf Spanisch oder Katalanisch dazu brachte, Entwürfe zu ändern, bis sie ihr vollends gefielen. Sie tat das mit der für sie so typischen charmanten Eigenwilligkeit, die jedoch wie weggeblasen schien, sobald Fatima Arndís in arabische Handarbeitsläden führte und ihr mit ironisch-nachdenklichem Lächeln Stoffe zeigte, die es in der Welt der jungen Designer nicht gab. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt begleitete die beiden ein feiner, diskreter Humor, der nur ihnen gehörte. Sie mussten sich nur in die Augen schauen und schon fingen sie an zu kichern, erzählte Arndís mir glucksend bei einer Tasse Tee. Sie, die nicht unterschiedlicher sein konnten, verstanden einander. Und hatten einander ins Herz geschlossen. In einer Tour sammelte Arndís Bücher, Kleider und Kosmetik für Fatima zusammen und erzählte mir mehr von ihr, verfluchte Fatimas Vater in Marokko mit solcher
Weitere Kostenlose Bücher