Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
sind süß, aber durchgeknallt, oder?, kicherte Arndís. Ja, schmunzelte Fatima. Meine durchgeknallte Familie.
Sehr zu Arndís’ Freude erfuhr ich nun etwas mehr über ihre Familie. Fatima sprach ganz offen, in ihren Augen lag eine beeindruckende Sorglosigkeit. Oder war das Wut?
*
Die Familie wohnte in einem großen Haus mit Innenhof am Stadtrand von Tanger. Fünf Kinder, Fatima und ihre vier jüngeren Brüder. Ihre Mutter half dem Vater in ihrem Stoffgeschäft, nähte und strickte nach Maß, während er mit den Kunden Kaffee trank und plauderte. Außerdem kümmerte sie sich um einige Ziegen, den Haushalt und die Erziehung der Kinder, während Fatimas Vater mit den Kollegen in Kaffeehäusern saß, zum Jagen in die Berge ging und durch das Land reiste, um mit Stoffen zu handeln.
Ihre Mutter beschwerte sich nie, sie bestimmte die Regeln im Haus und gab sich damit zufrieden, dass ihr Mann ihr wenigstens die Möglichkeit gab, bei den Schneiderarbeiten ihre künstlerische Neigung auszuleben. Dieser abenteuerlustige Lebemann hatte sie auf einer seiner Reisen in einem Bergdorf entdeckt, sein Blick traf den ihren bei einer Mahlzeit in der Lehmhütte ihrer Familie. Ihre Eltern waren Berber, die Handel mit Durchreisenden trieben, sie selbst sprach mehrere Sprachen und hatte eine hellere Haut als seine arabischen Schwestern. Außerdem hatte sie liebliche Gesichtszüge und geschickte Hände, die ihn überhaupt erst dazu bewogen hatten, ein Stoffgeschäft mit Schneiderei zu eröffnen.
Ihre Mutter protestierte nicht, als Fatimas Vater sich eine jüngere Frau nahm, doch im Laufe der Zeit verwandelte sie sich von einer Hausfrau in eine Hexe, meckerte und schimpfte, so dass im ganzen Haus niemand mehr seine Ruhe fand, schon gar nicht diese andere Frau. Die Rivalität zwischen den beiden brachte Fatimas Vater fast um den Verstand: Die Jüngere fürchtete sich vor der schimpfenden Schneiderin, die wiederum war außer sich vor Zorn, da ihre jugendliche Konkurrentin immer mehr Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. Der alte Mann hatte sich übernommen und wollte es nicht zugeben. Sobald es richtig Streit gab, bekam er einen Migräneanfall, und doch hätte er eher seine rechte Hand geopfert als die junge Frau verstoßen, die inzwischen schwanger war. Er wusste, wie die Dinge lagen: Auf die Ältere wartete das Alter, auf die Jüngere die Zukunft, die Ältere machte ihm ein schlechtes Gewissen, die Jüngere Hoffnung.
Als ihre Mutter zu einer ihrer Schwestern in das heimatliche Bergdorf zog, übertrug der Vater Fatima die häuslichen Pflichten, da die jüngere Frau längst nicht so gut nähen konnte und sich darüber hinaus weigerte, sich um Fatimas Brüder zu kümmern. Sie war ein ungebildetes Bauernmädchen, und Fatimas Träume, Buchhaltung zu lernen, um dann in einem Bekleidungsgeschäft zu arbeiten, provozierten sie. Solche Hirngespinste konnten ihre Welt zum Umsturz bringen. Also versuchte sie in einer Tour, Fatima das Leben schwerzumachen, versteckte Fatimas Habseligkeiten und warf ihr vor, hochnäsig zu sein.
Fatima vergaß ihre Träume, setzte sich zum Nähen in den Laden, umgeben von ihren quengelnden Brüdern; die Liebe zu ihrem Vater verwandelte sich in Hass. Jedes Mal, wenn sie ihre Mutter in dem Bergdorf besuchte, sah sie, wie schnell es mit ihr bergab ging. Sie saß nur noch herum, wiegte den Oberkörper vor und zurück und sprach mit niemandem – nur gelegentlich spuckte sie fluchend die Hunde an, meckerte über das Essen oder stieß hervor, dass ihr das Herz in den Dreck gefallen sei. Als Fatima sie ansprach, zog sich ihr eingefallenes Gesicht derart zusammen, dass es sie geradezu entstellte.
Fatima versuchte, Trost bei der Schwester ihrer Mutter zu finden, doch die war selbst nur noch ein halber Mensch, seitdem ihre Söhne es nach Spanien geschafft hatten und irgendwo in Barcelona wohnten, drei kräftige Jungs, die an ihre Chance im Leben glaubten. Auch Fatima vermisste ihre Cousins, denen sie vom Alter her näher war als ihren eigenen Brüdern. Und nachdem sie das alles noch eine Weile erduldet hatte, log sie ihren Vater an, sagte ihm, dass sie einen Freund habe, einen Seemann unten im Hafen. Als er sie weinend hinauswarf, musste sie sich das Lachen verkneifen.
Sie fand eine Stelle als Hausmädchen bei einer französischen Frau in Tanger, bei der sie auch wohnen konnte. Die Französin war mittleren Alters mit Seidenhaar und sanfter Stimme, eine kinderlose kluge Frau, die manchmal vergaß, wie viele Fremdsprachen
Weitere Kostenlose Bücher