Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
grün wie unreife Äpfel und anscheinend schallisoliert, so still ist es hier. Durch eine Fensterscheibe kann ich sehen, wie unzählige Menschen weihnachtlich geschmückte Einkaufswagen durch den Verbrauchermarkt schieben.
Der Tisch mit dem Buch von Valgardur ist fast leer, ein Jugendlicher legt hastig neue Bücher nach. Ich sehe ihn eine Weile an, dann sagt eine Frauenstimme meinen Namen. Als ich ihr vorsichtig den Kopf zuwende, wiederholt sie ihn noch einmal in sehr freundlichem Ton. Es ist die Polizistin, die mir einen Kaffee mit Milch in einem Plastikbecher reicht, und als ich ihn nehme, fragt sie, ob die Männer mich sexuell belästigt hätten.
Während ich sie anstarre, erscheint meine Mutter vor meinem inneren Auge. Einmal hatte sie gesagt, dass ich das Falsche beim Namen nennen muss, um zu erkennen, was richtig ist, sonst wäre das Leben absurd. Wo waren wir, als sie das sagte? Auf einem Ausflug mit ihren Kollegen und deren Familien. Ich hatte auf der Busfahrt heimlich einen Blaubeer-Schokoladenkeks nach dem anderen gefuttert, und als wir ankamen, waren sie alle weg – die Kekse, auf die die anderen Kinder sich den ganzen Weg über gefreut hatten. Und ich war schuld. Ich stand da, verstockt, mit blauem Mund und sagte, ich hätte eben Hunger gehabt. Und dass das meine Kekse gewesen seien. Die meine Mutter gebacken hatte.
Haben die Männer Sie sexuell belästigt?, wiederholt die Polizistin.
Dann würden die ja auf Tiere stehen, sage ich und schlucke schwer, das Bärenkostüm klebt mir auf der schweißnassen Haut. Die haben nur nach dem Weg gefragt. Zugegebenermaßen etwas aufdringlich, die waren irgendwie nervös.
Ich dachte, Sie wurden angegriffen, sagt sie. Ich blinzele, schlucke noch schwerer und schüttele den Kopf. Irgendwie fühle ich mich Arndís gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichtet. Ich habe zwar keine Ahnung, worüber ich schweigen soll, spüre aber, dass ich erst selbst verstehen muss, was hier passiert, bevor ich darüber spreche. Nein, sage ich noch einmal. Nein, sie haben mich nicht sexuell belästigt.
Was ich ihr hätte sagen können, war, dass die schon sehr einschüchternd gewirkt haben: Das zweideutige Lächeln und die durchdringenden dunklen Augen – etwas, das auch Arndís wahrgenommen hatte, als sie mit dem, der mir bekannt vorkam, über einem Lamm-Eintopf flirtete und scheinbar alle ihre Schimpftiraden über westliche Frauen, die Moslems heirateten, vergessen hatte. Dabei konnte sie sich über kaum etwas mehr aufregen als über das Los muslimischer Frauen. Schau dir diesen Heuchler an. Der verbietet doch bestimmt seiner ganzen Familie, Schweinefleisch zu essen! Hatte sie einmal gesagt, als wir bei einem Schlachter vorbeikamen, der gerade Schinken in Scheiben schnitt in einem kleinen Laden, in dessen Schaufenster ein Schild mit der Aufschrift ›Halal‹ hing.
Vielleicht ist das Schild noch von früher, und nun ist das eine ganz normale Schlachterei, vermutete ich, die Augen auf seine Finger gerichtet, die so geschickt mit dem Fleisch hantierten, hoffentlich schneidet er sich die nicht ab, dachte ich, weder er noch mein Jordi in seiner Schlachterei.
Das glaubst du doch selbst nicht, sagte Arndís, für die immer alles eindeutig und klar sein musste. Ich versuchte, den schalen Blutgeruch loszuwerden, der aus dem Laden auf die Straße wehte, und erwiderte nicht, dass El Raval ein Schmelztiegel war, in dem es die merkwürdigsten Dinge gab; der Mann, der heute kein Schweinefleisch schnitt, tat es morgen vielleicht doch.
Umso weniger verstand ich, warum sie andauernd mit Fatimas Cousins flirtete. Sie war zwar süchtig nach Nervenkitzel, legte aber gleichzeitig großen Wert darauf, die Dinge unter Kontrolle zu behalten. Wahrscheinlich brauchte sie einfach etwas Abwechslung, bei der ganzen Zeit, die sie in diesem Imbiss herumhing. Zu uns nach Hause lud sie Fatima nicht wieder ein. Wenn ich nach ihr fragte, wich Arndís mir aus. Mir kam der Verdacht, dass es sie nervös gemacht hatte, wie gut Fatima und ich uns verstanden. Für mich war es eine Erleichterung zu wissen, dass auch Arndís eifersüchtig sein konnte – so musste ich mir zumindest keine Sorgen mehr machen, sie zu vernachlässigen. Auf diese Weise hatte der Mädchenabend unsere Freundschaft gerettet, und Arndís traf sich weiter mit Fatima und schrieb ihre Artikel. Ich rechnete damit, dass Fatima in einer isländischen Zeitschrift in einem Beitrag über muslimische Frauen auftauchen würde, sobald Arndís das
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