Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
bereits tief und fest, während Abbas seinen Sack näher zog und Grace’ Kopf darauf bettete, dann aus seiner Jacke schlüpfte und sie über ihrem zusammengekauerten Leib ausbreitete.
»Grace?« Mit beunruhigter Miene trat Leonard in das Hotelzimmer, nachdem er mehrmals an die Tür geklopft, aber keine Antwort erhalten hatte. Ein Blick genügte ihm, um zu sehen, dass sie fort war. Er trat zum Tisch, hob den Ring auf und die Nachricht, die Grace ihm hinterlassen hatte.
Seine blauen Augen verdunkelten sich, während sie über die Zeilen auf dem Blatt Papier wanderten, begannen aufzufunkeln, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Er zerknüllte die Nachricht in der Faust und machte auf dem Absatz kehrt, um seine Sachen zu packen.
40
»Ist dir auch nicht zu kalt?«, fragte Royston besorgt, als Stephen neben der Bank die Bremsen des Rollstuhls anzog und sein Zigarettenetui aus der Sakkotasche hervorholte. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, während er sich auf der äußersten Kante der Bank niederließ. Die Sonne des Septembertages täuschte: Obwohl ihr kupfern angehauchtes Licht die Blätter der Bäume leuchten ließ wie Juwelen, wie Rubine, wie Topase und wie Bernstein, war die Luft unter dem klarblauen Himmel bereits empfindlich kalt.
Eine Braue Stephens krümmte sich spöttisch, und er fuhr mit beiden Händen an sich hinunter. »Sehe ich etwa aus, als sei ich zu leicht angezogen?«
Royston musterte den dicken Pullover unter dem Tweedsakko, den langen Schal um den Hals des Freundes und die schwere Wolldecke, die über seine Beine gebreitet und bis über die Taille hochgezogen war, und grinste. »Auch wieder wahr. – Danke.« Er nahm sich eine Zigarette aus dem dargebotenen Etui und ließ sich Feuer geben, sog geräuschvoll den Rauch ein. »Was von Grace gehört?«
»Nein«, kam es in entschlossenem Ton von Stephen. »Damit rechnet hier auch so schnell keiner.«
»Unfassbar eigentlich«, sagte Royston und betrachtete die Glutspitze der Zigarette. »Dass Len und Grace eines Tages durchbrennen würden.« Wie ein Lauffeuer hatte sich das Gerücht inSurrey und bis hinauf nach London verbreitet, Grace Norbury und Leonard Hainsworth seien einfach davongelaufen. Beide waren mündig und stammten aus guten Familien, sie waren ein Paar wie aus dem gesellschaftlichen Bilderbuch – warum also hatten sie es für nötig gehalten, durchzubrennen?
»Nonsens!« Stephen blies unter einem trockenen Lachen den Rauch aus. »Das glaubst du doch selbst nicht, dieses Märchen mit dem Durchbrennen!« Als Royston ihn irritiert ansah, fuhr er fort: »Grace hat sich aufgemacht, um Jeremy zu finden – oder wenigstens um zu klären, was mit ihm in Abu Klea geschehen ist. Und Len, der verliebte Trottel, hat sich breitschlagen lassen, mitzugehen. Anders kann ich mir das alles nicht erklären. Becky scheint da mehr zu wissen, hält aber eisern dicht.« Die Zigarette zwischen die knochigen Finger geklemmt, zog er energisch daran.
»Das ist doch Wahnsinn«, murmelte Royston und wickelte sich fester in seinen Mantel. Beim bloßen Gedanken an den Sudan liefen ihm immer noch Schauer über den Rücken. Und gleichzeitig verspürte er Erleichterung. Er wollte sich Leonard und Grace nicht als glückliches Paar vorstellen. Die gemeinsame Zeit im Sudan, die Schrecken der Hölle, durch die sie Seite an Seite gegangen waren, hatten die enge Freundschaft zwischen Royston und Leonard mitnichten vertieft; zerfressen hatten sie sie, nach und nach, weil sie jeden von ihnen kaum merklich verändert hatten. Und in Leonards Zügen die Züge von Cecily wiederzuerkennen, durch ihn an die Frau erinnert zu werden, die er, Royston, einmal so geliebt und die ihn so sehr verletzt hatte, das hatte mit zerstörerischer Kraft an dieser Freundschaft genagt, die einmal so stark, so innig gewesen war.
»Mhhh«, machte Stephen, die Zigarette im Mund. »Um meine Schwester mach ich mir da weniger Sorgen. Die kommt schon irgendwie durch. Die wäre wohl wirklich besser ein Kerl geworden. Ich frag mich eher, ob Len dem gewachsen ist. Ich glaube nämlich, Grace hat wesentlich mehr Mumm in den Knochen als unser Goldjunge.« Während Royston noch das ebenGehörte zu verdauen suchte, setzte Stephen hinzu: »Apropos Mumm in den Knochen. Hast du am zweiten Wochenende im November schon etwas vor?«
Royston ging in Gedanken den Kalender auf seinem Schreibtisch in Ashcombe House durch und schüttelte dann den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Warum?«
Stephen sah ihn an,
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