Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Grace. Ich wünsche mir, dass dieser Ring hier«, er nahm zärtlich ihre linke Hand, »irgendwann einmal keine Komödie mehr sein wird, um andere irrezuführen, sondern dass er eines Tages echt ist. Du bist die eine für mich, Grace, das warst du immer. Aber ich werde warten, bis du es auch willst. Bis du bereit bist. Auch wenn es Jahre dauert.« Er wollte sie auf die Stirn küssen, ließ davon aber ab, als sie zurückzuckte. »Kann ich dich allein lassen?« Sie nickte, und er schob sich vom Bett herunter, stieg in seine Schuhe und griff nach seinem Jackett.
An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich werde dich nie zu etwas drängen, Grace, und nie etwas von dir einfordern.Ich werde einfach nur da sein und warten, bis du zu mir kommst. Gute Nacht.«
Stunde um Stunde lag Grace wach und starrte an die Decke des Hotelzimmers, grübelte und zweifelte und wog ab. Das Entsetzen darüber, was sie beinahe getan hätte, zog immer wieder durch sie hindurch, vor allem das Entsetzen darüber, wie groß die Verlockung gewesen war, sich einfach fallen zu lassen, es einfach geschehen zu lassen.
Ihr Verstand sagte ihr, dass alle um sie herum recht hatten: Nach menschlichem Ermessen konnte Jeremy nicht mehr am Leben sein. Und selbst wenn, so war ihr Vorhaben, ihn in Omdurman zu suchen, völlig aberwitzig. Die Wahrscheinlichkeit, dass es für sie eine Reise ohne Wiederkehr würde, war groß. Ein Wagnis, dessen Folgen sie nicht abschätzen konnte; nicht wie bei einem schnellen Ausritt, bei einer Fahrt im Tilbury, und erst jetzt wurde Grace sich bewusst, dass sie Angst hatte.
Noch war es nicht zu spät, noch konnte sie umkehren. Nach Hause fahren und Leonard heiraten. Nach ihrem Abschiedsbrief dachte sicher ohnehin jeder, sie wären durchgebrannt. Es wäre ein gutes Leben an Leonards Seite auf Givons Grove in Surrey, umgeben von all den Menschen, die sie von Kindesbeinen an kannte und liebte. Und ihr Körper hatte ihr heute Abend sehr deutlich gemacht, dass es keinen Grund gab, bang oder mit Abscheu der Hochzeitsnacht und den Nächten danach entgegenzublicken. Es wäre das Leben, auf das sie jahrelang hingelebt hatte. Bis Stephen in jenem November Jeremy nach Hause mitgebracht hatte. Doch wie konnte sie guten Gewissens Leonard heiraten, ihm vor dem Altar Treue geloben, wenn ihr Herz noch immer auf Jeremy wartete, weil es sich standhaft weigerte, an seinen Tod zu glauben?
Er würde sie nie bedrängen, hatte Leonard gesagt, und sie glaubte ihm. Sie vertraute ihm. Doch sie traute sich selbst nicht mehr. Die Versuchung, vernünftig zu sein, würde mit jedem weiteren Tag stärker werden, das spürte sie, und sie spürte auch, wie schwach sie doch war. Sie, der immer alles in den Schoß gefallen war, die sich nie besonders anstrengen musste, um etwas zu schaffen.
Grace setzte sich auf, suchte die hinuntergefallenen Nadeln zusammen und steckte ihr Haar nachlässig auf. Sie kniete sich vor ihr Gepäck hin und suchte alles heraus, was sie für den Sudan brauchen würde. Ein Stück Seife und die notwendigsten Toilettenartikel. Eine Garnitur Unterwäsche und zwei Paar Strümpfe. Eine Wasserflasche aus Leder. Die Umhängetasche aus Stoff, die sie hier in Cairo gekauft hatte. Als sie den Beutel mit Geld in die Hand nahm, zögerte sie. Es war Leonards Geld, denn sie hatte kein eigenes; ohne die Unterschrift ihres Vaters kam sie nicht an Geld heran. Leonards Geld, das sie vor der Reise für alle Fälle untereinander aufgeteilt hatten. Den Revolver, den Leonard ihr zugesteckt hatte, nahm sie ebenfalls mit, samt der Munition, und ein Federmesser. Und die Photographie der Kompanie in Sandhurst, auf die sie nur einen flüchtigen Blick warf. Jeremys Gesicht darauf zu sehen war fast so, als müsste sie ihm leibhaftig in die Augen schauen, nach dem, was sie vorhin beinahe getan hätte. Dann nahm sie von dem Papier, das sie für den Notfall eingepackt hatte, ein Blatt und setzte sich mit einem Bleistift in der Hand an den Tisch.
Lieber Len,
ich bin zu dem Schluss gelangt, dass ich diese Reise allein fortsetzen werde. Komm mir nicht nach, sondern fahr nach Hause. Es ist schäbig von mir, Dich erst zu diesem Unternehmen anzustiften und Dich dann sitzen zu lassen, nach allem, was Du für mich getan hast, das weiß ich wohl, aber ich kann nicht anders. Vielleicht wirst Du mir eines Tages verzeihen können.
Danke, für alles.
Grace
Sie hatte die Zeilen kaum geschrieben, da verließ sie der Mut. Was mache ich da? Mit zitternden Händen rieb sie sich
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