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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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sich die Stirn des anderen etwas glättete, ohne dass er jedoch die Waffe sinken ließ. »Schieß doch einfach! Worauf wartest du noch!«Jeremys Stimme wurde lauter. »Schieß! Ich bin froh darum! Alles, nur nicht zurück dorthin! Los, drück ab!«
    Ein erstickter Schrei drang an sein Ohr, und er duckte sich, als ein Schatten auf ihn zuflog, geriet ins Taumeln, als etwas sich gegen ihn warf – ein menschlicher Körper. Jemand schlang die Arme um ihn und benetzte seine Halsbeuge mit Tränen. Dann traf ihn ein Duft, den er unter Tausenden herausgerochen hätte, nach Schlüsselblumen und nach nassem Gras, fast verborgen unter einer holzigen, warmen Schärfe wie von Zimt. Er blinzelte verwundert, als vor seinen Augen ein Tuch herabglitt und weizenhelle, strohtrockene Haare zum Vorschein kamen.
    »Ich hab dich gefunden«, raspelte eine Stimme, heiser vor Durst und Staub und Aufgewühltheit und darunter doch weich, so weich und immer noch kräftig. »Ich hab dich gefunden.«

47
    Grace’ Lider flatterten, öffneten sich, und das erste fahle Licht des Tages traf auf ihre Netzhaut. Sie atmete tief ein, diesen staubigen, trockenen Geruch der morgendlichen Wüste, der noch die frische Kühle der Nacht umfangen hielt. Ihre Augen wanderten zur Seite, und ein Lächeln malte sich auf ihr Gesicht. Jeremy lag neben ihr, den Ellenbogen aufgestützt, den Kopf in der Handfläche, und betrachtete sie.
    »Jeden Morgen«, flüsterte sie, »denke ich im ersten Moment, es wäre nur ein Traum gewesen.«
    Seine Mundwinkel unter dem langen, struppigen Bart kerbten sich ein. Es hatte den Anschein, als wollte er etwas erwidern, dann fiel Grace’ Blick auf sein Handgelenk, von dem der Ärmelsaum seiner djibba locker heruntergerutscht war, und sie spürte, wie das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb.
    »Jeremy ...« Ihre Finger streckten sich nach der Narbe aus, die das Gelenk umschloss wie ein schauerliches Armband aus Grausamkeit und die bislang vor ihren Blicken verborgen geblieben war.
    Wortlos setzte er sich auf und erhob sich, nickte Abbas, der die Kamele belud, nur kurz zu und entfernte sich dann von ihrem Lagerplatz für die Nacht.
    Grace rollte sich unter der Decke zusammen und schloss die Augen. Seit jenem überwältigenden Moment, als sie sich vor Omdurman wiedergefunden hatten, war es so zwischen ihnen.
    In den ersten Tagen und Nächten waren sie nur mit kurzen Unterbrechungen geritten, um möglichst viel Abstand zwischen sich und die Stadt zu bringen, damit niemand ihre Spur aufnehmen konnte, am Nil entlang, wo sie Wasser hatten und frisches Futter für die Kamele, während sie von dem Getreide und dem Brot lebten, das Abbas für erschreckend viel Geld in einem Dörfchen am Flussufer erhandelt hatte. Erst danach waren sie wieder dazu übergegangen, nur am Tag zu reiten und nachts zu rasten. Jeremys Arm, der sich von hinten um ihre Taille legte, um sie sicher im Kamelsattel vor sich zu halten, seine Brust, an der ihr Kopf zu liegen kam, wenn sie während des Ritts einnickte, waren die einzigen Berührungen, die er zuließ. Wann immer sie die Hand nach ihm ausstreckte, sich an ihn schmiegen wollte, entzog er sich ihr, und er sprach kaum ein Wort, wo sie selbst doch ein so starkes Bedürfnis hatte, mit ihm zu sprechen, allein nur seine Stimme zu hören. Selbst die Nachricht, dass Simon gefallen und dass Stephen seit dem Krieg im Rollstuhl saß, hatte er schweigend zur Kenntnis genommen. Was sie sich die ganze Zeit mehr als alles andere erhofft und gewünscht hatte, nämlich Jeremy endlich wiederzusehen, war in Erfüllung gegangen. Aber obwohl sie ihn jeden Tag, jede Stunde sah, war er ihr unendlich fern.
    Sie entfernten sich vom Nil, der sich als schillerndes blaues Band weiter durch die karge, felsige Landschaft zog, und ritten in ein weites Tal. Gelblicher Staub und Sand und Geröll bedeckten den unebenen Boden. Ein ausgetrocknetes Flussbett verlief in einiger Entfernung, und dornenbewehrte, knorrige Bäumchen und grünes Gestrüpp wucherten am Rand. Zu beiden Seiten zogen sich vom Nil herauf braune Bergflanken, und am Ende des Tals ragten dunkle, fast schwarze Grate auf.
    Grace zuckte zusammen, als Jeremys Arm den Druck auf ihren Magen verstärkte.
    »Wo bringt er uns hin?«, hörte sie ihn hinter sich murmeln, eine brüchige Härte in der Stimme, in deren haarfeinen Rissensich ein Flackern bemerkbar machte, das Angst sein mochte oder Hass oder beides und das ihr Gänsehaut machte.
    »Ich weiß es nicht«, warf sie ihm über die

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