Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Buch vor sich, den Kopf halb in der Armbeuge vergraben und einen träumerischen Ausdruck auf dem Gesicht. Allein die Finger ihrer einen Hand bewegten sich sacht, während sie Tabby, die sich neben ihr zusammengerollt hatte, das Fell kraulte, was die Katze mit einem gleichförmig rollenden Puurrr-puurrr-puurrr-puurrr beantwortete. Doch obwohl alles stimmte – Modell, Perspektive, Atmosphäre –, wollte die Zeichnung nicht gelingen. Vor Adas Augen schob sich immer Simons Gesicht, und ihre Finger kribbelten vor Verlangen, seine markigen Züge, seine weichen Augen aus dem Gedächtnis aufs Papier zu bannen. Seinen Mund vor allem, der sie auf solch verwirrende Weise verlockte, dass sie sich in denletzten Tagen immer wieder dabei ertappt hatte, wie sie daraufstarrte, ein sehnsüchtiges Ziehen in der Magengegend, bevor sie sich zusammenriss und schamesrot ihren Blick abwandte.
Verstohlen, beinahe so als müsste sie derartiger Anwandlungen wegen ein schlechtes Gewissen haben, sah sie zu ihren Eltern hinüber, wie sie unter der Eiche am Tisch saßen. Ihre Mutter schrieb Briefe, und ihr Vater las sich unter verhaltenem Seitengeraschel durch die Zeitung. Beide genossen ganz offensichtlich die friedliche Stille dieses Sonntags, eine Stille, die selten geworden war auf Shamley Green. Seit Stephen vor gut einer Woche, am Tag nach der Entlassungsfeier in Sandhurst, wieder sein eigenes und Simon und Jeremy zusammen eines der Gästezimmer bezogen hatten, ging es in Haus und Garten lebhaft zu. Schon am frühen Morgen fanden sich Leonard, Cecily und Royston mit Tommy im Schlepptau ein, und wann immer sie konnte, stieß Becky dazu. Wenn sie nicht zu Pferd und mit dem Tilbury die Gegend unsicher machten, schlugen sie unter großzügiger Auslegung der Regeln Tennisbälle über das Netz, rangelten die Jungs untereinander und mit Gladdy um einen zerfledderten Rugbyball, angefeuert von den Rufen der Mädchen. Und halbe Tage und Nächte lagerten sie im Garten, bei Zitronenlimonade und den Häppchen, mit denen Köchin Bertha sie verwöhnte, und lachten und redeten. Erzählten sich von den Streichen, die sie als Kinder ausgeheckt hatten, schmiedeten Pläne für den Rest des Sommers und für die Zeit danach.
Umso stiller und verlassener empfand Ada heute den Garten. Als ob ihre Familie ihr plötzlich nicht mehr genügte, und sie fühlte sich fast ein wenig schuldig bei diesem Gedanken.
Royston und Cecily waren mit Lord und Lady Grantham nach Devon aufgebrochen, um unter dem Familienschmuck der Ashcombes vielleicht ein Stück zu finden, das Cecily als Verlobungsring gefiel. Danach sollte es nach London gehen, um für Cecily eine Robe für die Verlobungsgesellschaft anfertigen zu lassen und um auf Estreham House alles für die bevorstehende Feier zu planen und vorzubereiten. Und da diese Reise nach Devon für die künftig verschwägerten Familien eine gute Möglichkeit bot, sich besser kennenzulernen, waren Leonard und Tommy mitgefahren.
Ada unterdrückte ein sehnsuchtsvolles Seufzen und widmete sich wieder ihrem Skizzenblock. Mit der Kuppe des kleinen Fingers verrieb sie die Zeichenkohle auf dem Papier zu einem Schatten, der jedoch nicht zufriedenstellend ausfiel. Sie zog die Brauen zusammen und legte den Kopf leicht schräg, kaute angespannt auf ihrer Lippe, während sie überlegte, wie sich das, was ihre Augen sahen, besser einfangen ließe.
»Ich dachte, wir könnten nächste Woche nach London fahren und uns um deine neue Garderobe kümmern«, drang die Stimme ihrer Mutter herüber. »Was meinst du, Ada?«
Adas Pulsschlag beschleunigte sich, und Bangigkeit stieg in ihr auf. Noch immer hatte sie es nicht über sich gebracht, ihren Wunsch, ans College zurückzukehren, zu äußern und ihre Eltern um deren Erlaubnis zu bitten. Morgen – morgen werd ich’s tun , hatte sie sich ein um den anderen Tag versprochen und es dann doch wieder aufgeschoben.
»Ada?«
Ohne aufzusehen, kratzte sie mit dem Daumennagel an der Kohle in ihrer Hand. »Ich glaube, ich möchte mein gesellschaftliches Debüt gerne noch etwas verschieben, Mama«, erwiderte sie schließlich leise.
Sie spürte die Augen ihrer Eltern und ihrer Schwester auf sich. Unvermittelt wirkte die eben noch so ruhige, behagliche Stimmung des Gartens wie aufgeladen.
»Aber warum denn, Liebes?« Ihre Mutter klang besorgt. »Hast du Angst vor dem, was damit auf dich zukommt? Angst, dem nicht gewachsen zu sein? Weder im Mai auf Givons Grove noch bei Stephens Entlassungsfeier hatten wir den
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