Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
heben.
»Komm«, sagte Grace und ergriff Adas Hand, »wir hängen die Füße ins Wasser. Wie früher.«
Der schmale Pfad, den sie in Kindertagen so oft entlanggewandert waren, war längst nicht mehr zu sehen, und doch trugen sie die Erinnerung an seinen Verlauf noch immer in sich. Die Röcke bis über die Knie geschürzt, stapften die Mädchen zielstrebig durch die Wiese, hinunter zu der Wildnis aus Erlen und Salweiden, die das Reich des Eisvogels – des Königs aller gefiederten Fischer – und des Teichrohrsängers, das der stelzbeinigen Reiher und der Libellen beschirmten und bewachten. Schweigsam, als befänden sie sich an einem geheiligten Ort, streiften sie durch den purpur blühenden Beinwell und durch die Rohrkolben, zwängten sich an eng stehenden Stämmen vorbei und duckten sich unter überhängenden Zweigen hindurch.
Grace, die vorausging, blieb unvermittelt stehen, noch halb gebückt unter einem tiefen Ast. »Da ist uns jemand zuvorgekommen«, raunte sie über die Schulter.
Jetzt konnte auch Ada Stimmen und Gelächter hören, halb verschluckt vom Rauschen und Plätschern des Wassers. Unmut machte sich auf ihrem Gesicht breit. Hier war der Cranleigh breiter und tiefer, ein verborgenes Fleckchen, das für Ada mit Erinnerungen an so viele Sommertage verbunden war, dass sie diese Stelle allein für sich und ihre Schwester beanspruchte und mit niemandem teilen wollte. Trotzig blieb sie stehen, während Grace sich noch ein paar Schritte weiter durchs Gebüsch geschlichen hatte und sie heranwinkte, mit einem vergnügten, geradezu schalkhaften Lächeln.
»Schau dir das an«, wisperte Grace, atemlos vor unterdrücktem Lachen, und zog ihre Schwester zu sich heran, schob sie dichter in die Zweige.
Ada stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte zwischen den Blättern hindurch, gab dann einen erstickten Laut von sich und presste die Hände auf den Mund.
Auf der gegenüberliegenden Böschung, im Schatten des hochwuchernden Dickichts, hockte Stephen, hemdsärmelig und barfuß unter hochgekrempelten Hosenbeinen, und duckte sich lachend unter den Wasserspritzern, die ihn aus der Mitte des Flussbetts trafen.
»Nun komm schon, zier dich nicht so! War doch deine Idee!«, rief Jeremy, der bis zu den Knien im Wasser stand.
»Feigling! Feigling!«, skandierte Simon, bückte sich und schaufelte mit beiden Händen einen Schwall Wasser auf Stephen.
Und ebenso wenig wie Jeremy trug Simon noch einen Faden am Leib; Hosen, Hemden, Strümpfe und Schuhe der beiden lagen in einem unordentlichen Haufen neben Stephen.
Ada ließ die Hände sinken und starrte mit weit geöffnetem Mund, weit geöffneten Augen hin und vergaß beinahe das Atmen.
Nackt sah Simon gar nicht mehr klein und schmächtig aus. Breite Schultern mit kräftigen Schlüsselbeinen thronten über einem von ausgeprägten Muskelpartien quer gerippten Torso, der in schmale Hüften auslief. Wenn er sich vorbeugte, spannten sich unter seiner beinhellen Haut Sehnen und Muskelstränge, und wenn er sich aufrichtete und sich mit beiden Händen Wasser über das Gesicht laufen ließ, ähnelte er in seiner scharf modellierten Körperlichkeit Michelangelos David , den Ada in Florenz eingehend studiert hatte. Und als ihr Blick auf sein Geschlecht fiel, eingebettet in ein dichtes dunkles Dreieck, loderte in ihrem Bauch ein Feuerball auf und ließ einen Glutstrom durch ihre Adern kreisen.
Grace konnte ihren Blick nicht von Jeremy lösen, der unbekleidet mehr denn je wie aus Lehm geformt wirkte, die Muskeln seines kraftvollen Leibes stramm gebündelt. Gegen die gebräunte Haut seines Gesichts und seines Halses, seiner Hände und Unterarmestach die Haut seines übrigen Körpers blass ab wie sonnengetrocknete Tonerde. Umso dunkler wirkten die Haare auf seiner Brust, die sich am ersten Rippenbogen sammelten und sich als feine Linie bis zum Schattental seiner Scham hinabzogen. Mit ihren Augen fuhr Grace die Biegung seines Rückgrats entlang, hinunter zu den vollkommen halbrunden Hinterbacken, glatt und hart wie Rosskastanien im späten Herbst. Als er sich reckte, sich eine Handvoll Wasser über den Kopf goss und sich das nasse Haar aus der Stirn strich, ließ ein verirrter Sonnenstrahl die feinen Härchen auf seinem Arm kupfern aufglimmen, sodass Jeremy für einen Augenblick einem Faun ähnelte. Mit einem Mal kam es Grace so vor, als ob ihre leibliche Hülle zu eng geworden wäre; so als ob sich deren Begrenzung auflösen und Grace’ Innerstes sich weit, weit ausdehnen und
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