Jenseits des Spiegels
Das sollte ich auf jeden Fall in der Hinterhand behalten.
Ich legte die Akte weg, und nah mir die nächste. Eine ganze Weile blieb es ruhig, nur das Knistern des Papiers war zu hören. Hin und wieder ein paar gemurmelte Worte.
Manche der Wölfe waren einfach ohne Hinweis verschwunden, ein junger Mann sogar direkt aus dem Bett seiner Gefährtin. Mancherorts haben die Lykaner den starken Geruch von Katze wahrgenommen, aber eines stach schon nach kurzer Zeit hervor: zu einem Großteil waren die Wölfe männlich, und alle waren mehr oder weniger ausgewachsen. Selbst die Welpen. Der, oder besser gesagt die jüngst, war Isla mit ihren sechzehn Jahren. Die anderen waren alle siebzehn und älter. Der älteste Lykaner war eine Frau Mitte vierzig aus dem Nebeltal, das auf der anderen Seite von Sternheim lag.
Das war auch noch so eine Sache, alle verschwunden lebten in den Rudeln, die um Sternheim ihre Reviere hatten, manche näher als andere, aber das Zentrum schien trotzdem diese Stadt zu sein. „Was ist mit den Rudeln weiter weg?“, fragte ich irgendwann.
Pal zuckte mit den Schultern, ohne den Blick von seiner aktuellen Akte zu nehmen. „Über die steht hier nichts.“
„Das meine ich nicht.“ Ich ließ die Akte sinken, um ihn ansehen zu können. „Es ist doch klar, dass sich die Rudel, die weiter entfernt leben, nicht hier nach Sternenheim kommen, um ihre Vermissten zu melden, sie gehen zu den Städten, die bei ihnen in der Nähe liegen.“ Welche auch immer das sein mögen. „Sie können hier also gar nicht verzeichnet sein, doch vielleicht sollten wir herausbekommen, ob auch dort Wölfe verschwunden sind.“
„Sie hat Recht.“ Das kam von Tyge. „Julica, rufe doch bitte deine Mamá an, und bitte sie darum, sich mit den Rudeln von außerhalb in Verbindung zu setzen, damit wir herausbekommen, was an Talitas Überlegung dran sein könnte.“
Julica nickte Wortlos, legte ihre Akte zur Seite, und verschwand mit dem Vox ins Bad, um ungestört zu sein.
„Und du glaubst, dass die uns so einfach Auskunft geben?“ Pal klang leicht ungläubig.
Tyge zuckte mit den Schultern. „Das können wir nur hoffen. Wenn Prisca ihnen die Situation erklärt, werden sie bestimmt mitteilsam werden.“
Sein Zweifel blieb bestehen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. So geheimnistuerisch, wie die Lykaner gerne taten, würde bestimmt keiner von ihnen freiwillig zugeben, dass sie die Sicherheit ihrer Leute nicht gewährleisten konnten, weil sich ein Eindringling Zugang zu ihrem Territorium verschafft hatte.
„Das bleibt nur zu hoffen“, sagte der Rothaarige grimmig.
Ich legte die Akte von dem Mann, der direkt aus dem Bett verschwunden war, zur Seite, und griff nach der nächsten. Schon als ich sie aufschlug, stockte mir der Atem. Dort war ein Bild von einer halb verwandelten Frau. Ihr Fell war wohl mal weiß gewesen, nicht so auf diesem Bild. Rostrote Flecken überzogen sie, kahle, blutige Stellen ohne Fell, offene Wunden am ganzen Körper, tote, leere Augen. Das haarige Ding, das da neben ihr lag, wollte ich mir gar nicht so genau ansehen – es sah aus wie ihr Schwanz –, aber das schlimmste war wohl die Bauchwunde, die Dinge zeigte, die eindeutig unter der Haut verborgen bleiben sollen.
Augenblicklich stand mir wieder der Anblick von den beiden Toten im Wald vor Augen. Die gräuliche Hautfarbe, leblose Augen, und die eingefallenen Wangen. Aber am deutlichsten waren da die tiefen Fleischwunden, die
Es
in sie geschlagen hatte.
Pal sah besorgt von seiner Akte auf, hatte meine Gemütsveränderung wohl gespürt, oder wenigstens gerochen – ja, Lykaner konnten Gefühle riechen. „Talita?“
Langsam klappte ich die Akte wieder zu, legte sie zurück auf den Stapel, und löste mich aus Kovus Griff. Ohne ein Wort stand ich auf, und verließ unter den fragenden Blicken der Wölfe das Zimmer.
Zur Tür raus, auf den Korridor, und einfach nur weg. Leider wollte das nicht ganz so klappen. Ich schwankte leicht, und mir war schlecht. Mit diesem Bild war alles zurückgekommen, was ich in den letzte Wochen einfach verdrängt hatte. Die Angst in dieser Nacht, dieses Gefühl beobachtet, gejagt zu werden. Das Alleinsein. „Oh Gott.“ Im Korridor musste ich mich an der Wand abstützen, um nicht umzukippen. Langsam ließ ich mich dran auf den Boden sinken, darauf hoffen, dass mein gestriges Abendessen nicht auf sehr unkonventionelle Methode wieder zum Vorschein kam.
Ich bemerkte erst, dass Pal neben mir hockte, als er meine Wange
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