Jenseits des Spiegels
„Ich sehe dich, und ich brauche dich. Du bist doch mein Freund. Bitte.“
„So, tust du das, siehst du mich?“
„Ja, natürlich. Wie kannst du das nur fragen?“ Verdammt, es musste ihm schlechter gehen, als ich geglaubt hatte. „Du warst der erste, der mich nicht mit Verachtung für meine bloße Existenz gestraft hat. Du bedeutest mir so viel, und deswegen darfst du nicht sterben.“
Er forschte in meinem Augen nach der Wahrheit, und setzte dann wieder dieses halbe Lächeln auf, das er mir schon bei unserer ersten Begegnung im Bad gezeigt hatte. „Ja das tust du.“
„Ja, tue ich, ich sehe dich“, versicherte ich ihn. „Und deswegen darfst du nicht sterben, hast du mich verstanden? Du musst bei mir bleiben, bitte.“
„Das tue ich, wenn du auch etwas für mich tust.“
„Alles.“
„Küss mich.“
Der Tritt kam so schnell, dass ich im ersten Moment glaubte, ihn mir nur eingebildet zu haben, doch dann stöhnte Pal vor Schmerz.
„Veith!“, schrie ich empört. Er hatte Pal getreten, einfach so. Hatte mit dem Fuß ausgeholt, und ihm mit dem Fuß gegen die Schulter gekickt. Ich war fassungslos.
„Keine Sorge, alles in Ordnung mit ihm. Er simuliert nur, in der Hoffnung damit einen Kuss bei dir abzugreifen.“
„Was?“ Das war doch wohl ein schlechter Scherz, aber dem schuldigen Blick Pals zu Urteilen hatte Veith mit seiner Vermutung vollkommen Recht.
„Einen Versuch war es wert.“ War seine einzige Entschuldigung.
Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Er ließ mich in dem Glauben, sich an der Schwelle zum Tod zu befinden, nur um ein bisschen mit mir rumzuknutschen? „Du Mistkerl!“ Ich schlug ihm gegen die gleiche Stelle die Veith schon gewählt hatte – sehr doll sogar –, dann zog ich ihn so fest wie ich es wagte an mich. „Jag mir nochmal so einen Schrecke ein, und du findest dich wirklich im Totenreich wieder.“
„Verstanden.“ Und auch er drückte mich an sich. Eigentlich sollte ich ihn nicht umarmen, sondern stinkwütend auf ihn sein, aber ich war viel zu glücklich darüber, dass er nicht sterben würde, als wirklich böse sein könnte. Auch wenn er mir einen riesen Schrecken eingejagt hatte. Wir lebten, und das war das einzige was zählte. Wir hatten es geschafft.
„ISLA!“
Das war Kovus Stimme. Ich richtete mich halb auf, und entdeckte den Kleinen zusammen mit Tyge in der Nähe einer Felsspalte, viel zu nahe an dem Drachen. Das sah Veith wohl genauso. Ohne ein weiteres Wort, ging er mit einem respektvollen Bogen um den Drachen herum zu dem Kleinen. Erst jetzt fiel mir auf, wie unglaublich ruhig es auf der Lichtung geworden war. Von Erions Wölfen war kaum noch einer zu sehen. Sie hatten sich davongemacht, oder lungerten verwirrt am Waldrand herum, wo sich Zitas und Najats Wölfe um sie kümmerten. Ein paar andere von ihnen waren mit festen Stricken an Bäumen gebunden, wo sie tobten, um wieder frei zu kommen. Erions tot hatte wohl nicht alle von dem Zauber befreit. Was würde nun aus ihnen werden?
Ich warf einen Blick zu den Überresten des Täters, die halb unter dem Drachen begraben waren. Mitgefühl für die Riesenechse überkam mich. Mutterseelenallein lag der Drache dort, geschunden und verletzte, an der Schwelle zum Tot, ohne dass sich jemand um ihn kümmerte. Dieses Bild war so schrecklich. Ich konnte einfach nicht glauben, dass reine Gier dafür verantwortlich war. Noch ein Leben, das ich nicht hatte beschützen können, noch ein unschuldiges Wesen, das sterben würde, weil ich die falschen Entscheidungen getroffen hatte, weil ich zu dumm gewesen war, die Wahrheit zu erkennen.
„Hey, nicht wieder weinen.“ Pal strich mir übers Gesicht, aber diese Geste konnte mich nicht beruhigen.
Ich bekam kaum mit, wie Kovu zu uns kam, weil Veith ihn von der Spalte weggeschickt hatte, merkte nicht, dass er seine Hand auf meine Schulter legte, und sie tröstend drückte. Ich hatte nur Augen für dieses arme Geschöpf, dem niemand zu nahe kommen wollte.
Vielleicht war es Dummheit, oder es hatte mir nicht gut getan, an zwei Tagen hintereinander etwas auf den Kopf zu bekommen, aber so furchteinflößend wie der Drache auch war, ich erhob mich von Pals Seite, und lief mit langsamen Schritten auf ihn zu.
Nach und nach wurden die Lykaner drauf aufmerksam, wie ich mich dem großen Tier langsam nährte. Ein paar Blicken in meine Richtung, andere riefen mir etwas zu, aber ich hörte es gar nicht wirklich. Außer diese eine Stimme.
„Talita!“
Veith.
„Verdammt, was
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