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Jenseits des Windes

Jenseits des Windes

Titel: Jenseits des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Kühnemann
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nicht ein einziges Mal den Kopf, während er aß. Sogar Abe und Louis gaben sich erstaunlich ruhig. In der hintersten Ecke des Raumes saß Kjoren allein an einem kleinen Tisch. Er stocherte mit dem Messer in einem Stück Gebäck herum und pulte die Rosinen heraus, als handelte es sich um ein wissenschaftliches Forschungsprojekt.
    Den Nachmittag verbrachte Leroy allein in seiner Koje. Er las in einem Buch, das er aus einem Regal auf dem Gang genommen hatte. Es handelte sich um Anleitungen zum Schiffbau. Es war sterbenslangweilig, doch Leroy verspürte nicht den Wunsch, sich mit den anderen in den Aufenthaltsraum zu setzen. Er hörte ihre Stimmen und ihr Lachen durch die dünnen Holzwände bis in die Kabine. Leroy bereute seinen Entschluss, den Rest des Tages in Einsamkeit zu verbringen, nicht im Geringsten. Es bereitete nicht viel Freude, anderen beim Fröhlichsein zuzusehen, während man danebensaß und nicht wahrgenommen wurde. Seine Begegnung mit Abe und Louis hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Wenn der Preis für Akzeptanz der war, sich selbst zu belügen, zog es Leroy doch lieber vor, sich von anderen fernzuhalten. Er hatte immer den Wunsch gehegt, eines Tages zum Offizier aufzusteigen. In seinen Träumen hörte man ihm zu, man respektierte ihn und legte Wert auf seine Meinung. Doch selbst wenn er das nötige Geld besessen hätte, um sich ein Offizierspatent zu kaufen, hätte es ihm dennoch an Durchsetzungskraft gefehlt. Leroy seufzte. Bis an sein Lebensende würde er gemeiner Fußsoldat sein. Ein Anflug von Heimweh brandete durch ihn hindurch. Es schmerzte, an die Heimat zu denken. Sein Vater hatte Leroys Entscheidung, in die Armee einzutreten, nie nachvollziehen können. Sie hatten sich oft deswegen gestritten. Leroy rang die aufkeimende Schwermut nieder. An seine Vergangenheit zu denken war wie das Stochern in einem Geschwür. Zu viele schmerzliche Erinnerungen waren damit verbunden.
    Früh am nächsten Morgen polterte jemand durch die Gänge, hämmerte an die Zimmertüren und brüllte: »Frühstück! Aufstehen, los!«
    Leroy fühlte sich, als hätte er gar nicht geschlafen, und als er die Augen öffnete, lag der langweilige Wälzer noch auf seiner Brust. Sogar die Kleidung hatte er seit dem Vortag nicht mehr gewechselt. In den anderen Kojen gähnten und nölten seine Zimmergenossen. Leroy hatte nicht einmal bemerkt, wie sie die Kajüte gestern Nacht betreten hatten. Er schalt sich einen disziplinlosen Narren. Ein Soldat durfte weder faul noch unaufmerksam sein. In Windeseile strich sich Leroy seine Uniform glatt und wusch sich das Gesicht mit dem abgestandenen Wasser aus der Schüssel, die neben der Tür auf einem Hocker stand.
    Sie nahmen das Frühstück in aller Eile ein, denn der Kapitän verkündete, sie hätten in der Nacht gute Fahrt gemacht und würden schon bald in Valana anlegen.
    Als Hauptmann Lenry ihnen die Erlaubnis erteilte, vom Tisch aufzustehen, war Leroy der Erste an der Treppe zum oberen Deck. Er stürmte nach draußen, wo ihn sogleich der scharfe Wind erwartete, der in ganz Yel, besonders aber auf den Luftmeeren, mit unbarmherziger Brutalität wütete. Leroy trat an die Reling. Und tatsächlich, die Bucht von Valana erstreckte sich am Horizont – beinahe schon zum Greifen nahe. Der atemberaubende Anblick ließ sein Herz schneller schlagen. Der Fluss Blau stürzte sich in die unendlich erscheinende Tiefe des Abgrunds, die schroffen Felsen der Küste glitzerten in der Morgensonne. Leroy wandte sich um und legte den Kopf in den Nacken. Die schneeweißen Segel der »Wind I« blähten sich im Wind und sie rasten mit hohem Tempo hinab auf den Hafen zu. Aus der Distanz sahen die an der Küste aneinandergereihten Häuser aus wie Perlen auf einer Schnur. Weit dahinter erhob sich das Klingengebirge mit seinen scharfkantigen Felsvorsprüngen und Schluchten bis in den Himmel. Schleierwolken umspielten die Gipfel.
    Leroy blieb an der Reling stehen, bis die Besatzung des Schiffes ihn aufforderte, unter Deck zu gehen, weil sie die Segel einholen wollten. Widerwillig kam Leroy ihrer Aufforderung nach, es war eh Zeit, zu packen. Zurück in der Kabine verstaute er die wenigen Habseligkeiten in seinem Rucksack. Er ging in den Speisesaal, um mit den anderen Soldaten darauf zu warten, von Bord gehen zu dürfen. Vom Fenster aus beobachtete er, wie der Kapitän das Schiff geschickt in den Hafen steuerte und an einem der Landungsstege anlegte. Nachdem die Matrosen es vertäut hatten, ließen sie die

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