Jenseits des Windes
Er schluckte bittere Galle und kämpfte gegen einen heftigen Würgreiz an. Er fühlte sich kaum in der Lage, seine Beine zu bewegen. In unendlicher Langsamkeit schleppte er sich über das Kasernengelände, doch auf halbem Weg versagten ihm die Beine. Er sank auf die Knie. Allmählich beschlich ihn das Gefühl, wirklich krank zu sein. Er fühlte sich fiebrig. Die Szene vor seinen Augen verschwamm zu einem grotesken Farbenmeer. Er führte eine Hand an die Stirn. Sie war heiß. Hilflos sah er sich um, doch niemand war in der Nähe, den er hätte um Hilfe bitten können. Die Wege lagen verlassen im Mondlicht. Mehrere Minuten lang hockte Leroy auf dem Boden, ehe sich sein Blick allmählich wieder schärfte. Er schwitzte und krempelte die Ärmel der Uniform hoch. Ein Schreck durchzuckte ihn. Die Haut an den Innenseiten seiner Unterarme war übersät mit roten und gelben Flecken. Er rieb seine Zunge am Gaumen. Sie fühlte sich pelzig an. Ein widerlicher Geschmack nach vergorener Milch machte sich in seinem Mund breit.
Ich brauche einen Arzt.
Leroy musste seine ganze Kraft aufbringen, um auf die Beine zu kommen. Er schwankte beim Gehen wie ein Betrunkener. Nur mit Mühe erreichte er das Sprechzimmer von Dr. Seatley, dem diensthabenden Arzt. Er rüttelte am Türknauf, doch der Doktor öffnete nicht. Ein handgeschriebener Zettel klebte von außen an der Tür. Die gekritzelten Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er würgte. Weshalb nur war der Doktor nicht daheim? Er musste zur Krankenstation, aber bis dahin waren es zweihundert Yards. Und wenn dort auch niemand öffnete?
Leroy sah sich abermals die Quaddeln auf der Haut an, die von einem sanften Rot in ein kräftiges Violett übergegangen waren. Was fehlte ihm bloß? Tief in seinem Bewusstsein gab er sich die Antwort. Ein einzelnes Wort drängte sich ihm auf. Sanguispilze . Jene knallroten Pilze, die es nur in den Sümpfen der Flachlande gab. Weil er im Einklang mit der Natur aufgewachsen war, kannte er das Krankheitsbild. Sein Vater hatte ihn als Kind oft vor den bunten Pilzen gewarnt. In der Gegend um Budford fand man sie, wenn man lange genug suchte. Sie schmeckten vollkommen neutral und in den meisten Fällen endete der Verzehr mit dem Tod. Besonders Firunen kannten alle Kräuter und Pflanzen von Yel. Bei den Valanen waren die Sanguispilze hingegen eher unbekannt, zumindest nach Leroys Kenntnisstand. Die typischen violetten Quaddeln auf seiner Haut ließen keinen Zweifel offen, dass er vergiftet worden war. Aber wann?
Das Festmahl nach der Beerdigung ...
Er konnte die Pilze nur dort zu sich genommen haben. Wer war dafür verantwortlich? Waren alle Gäste dem Tode geweiht? Der König und seine Königin?
Leroy schleppte sich über das Kasernengelände, doch Orientierungslosigkeit ergriff von ihm Besitz und vernebelte seine Sinne. Er lief und lief, wusste aber schon bald nicht mehr, wo er war. Hatte er die Kaserne verlassen? Er sah nichts mehr und sank abermals auf die Knie. Seine Hände bekamen feuchtes Gras zu fassen. Er riss einige Büschel aus und steckte sie sich in den Mund. Er aß Blätter, Gras und allerhand andere Kräuter, die er zu fassen bekam. Leroy wusste nicht einmal, ob sein Instinkt ihn leitete oder ob er einfach nur wahnsinnig war. Von seinem Vater hatte er gelernt, dass einige Wildkräuter in der Lage seien, Giftstoffe zu neutralisieren. Wie besessen stopfte er sich wahllos Pflanzen in den Mund.
Irgendwo in der Nähe rief eine Krähe. Leroy sah nach oben. Das Bild drehte sich, doch er erkannte dennoch einen mächtigen Baum, der seine langen Äste über eine Wiese reckte. Der schwarze Vogel schrie erneut. Er musste irgendwo im dichten Blattwerk über ihm sitzen. Er krächzte, als lachte er ihn aus. Vielleicht rief er auch seine Artgenossen in Erwartung eines Festmahls herbei. Wenn Leroy starb, würden ihn die Aasvögel zerfleischen. Kein schöner Gedanke. Er griff nach einem Stein, um nach dem Vogel zu werfen, doch er war zu schwach. Die Welt verschwamm und hüllte sein Bewusstsein in einen dichten Nebel. Sein letzter Gedanke galt den Worten von Oberst Ripps: Morgen früh nach Sonnenaufgang erwarte ich Sie im Saal der Gerechtigkeit ... Erscheinen Sie, ansonsten stelle ich Ihnen Ihre Entlassungspapiere aus ...
Elf
Umbruch
D ie Bauarbeiten am Westflügel kommen gut voran. Ich schätze, uns bleiben noch wenigstens vier Wochen Zeit, ehe der erste Frost uns eine Pause aufzwingen wird. Im Frühjahr wird alles fertig sein und im neuen Glanz
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