Jenseits des Windes
erbärmlich aus. Sein Wangenfleisch hing hinab, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Dennoch beklagte er sich nicht. Er hatte überlebt, und allein das zählte. Die Kräuter, die er im Zustand geistiger Verwirrung in jener schicksalhaften Nacht gegessen hatte, hatten ihm das Leben gerettet und das Gift des Pilzes aus seinem Körper gespült. Leroy dachte nur ungern an den schwärzesten Moment seines Lebens zurück. Es war die Nacht, in der er nicht nur beinahe sein Leben, sondern auch seinen Posten als Soldat verloren hatte. Er hatte drei Tage lang in einem verlassenen Waldstück nahe der Kaserne gelegen, gefiebert und geschlafen. Folglich hatte er der Aufforderung von Oberst Ripps, zum Rat der Obersten zwecks einer erneuten Befragung zu erscheinen, nicht nachkommen können. Leroy war sich sicher, dass seine Entlassungspapiere seit diesem Tag irgendwo in Ripps’ Büro lagen und auf ihre Abholung warteten. Leroy schnaubte verächtlich. Selbst wenn er zur Kaserne zurückgekehrt wäre: Angesichts des offensichtlichen Anschlags auf sein Leben hätte er sich einem großen Risiko aussetzen müssen. Vielleicht versuchte der Attentäter erneut, ihn umzubringen, wenn er herausfand, dass sein Plan gescheitert war. Leroy wusste nicht, weshalb man ihn hatte loswerden wollen, und vermutlich würde er es auch nie erfahren.
Leroy seufzte und rieb sich das Gesicht. Er hatte sich geschworen, stark zu sein und das beklemmende Gefühl von Selbstmitleid zu unterdrücken, doch es gelang ihm nicht immer. Er hatte Valana nicht nur deshalb verlassen, weil es so gefährlich geworden war. Im Grunde war es nur ein Vorwand. Er schämte sich. Vielleicht hätte ihm eine ruhmreiche Karriere als Offizier bevorgestanden. Alle hätten ihn bewundert und zu ihm aufgeschaut. Jetzt lebte er als Abschaum, nicht besser als die unzivilisierten Firunen an der Grenze des Reiches. Nie hätte er es ertragen, wenn ihn jemand in Valana auf der Straße erkannt und mit dem Finger auf ihn gezeigt hätte.
Leroy schlenderte die schmale Gasse entlang Richtung Süden. Mit jedem Schritt, den er sich dem Abgrund näherte, nahm der Wind zu. Er hielt sich gern am Abgrund auf. In Valana hatte er oft beobachtet, wie sich das Wasser des Flusses Blau an seiner Mündung in die unendliche Tiefe stürzte. Mehr als einmal hatte Leroy darüber nachgedacht, sich ebenfalls hinunterzustürzen. Doch er war zu feige. Vielleicht wäre er bis in alle Ewigkeit gefallen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Viele der ärmeren Familien, die in Küstennähe lebten und sich kein im Sinne des b armherzigen Gottes angemessenes Grab leisten konnten, benutzten den Abgrund als eine Form der Bestattung. Es war unwürdig, geradezu ein Frevel. Zweifelsohne bot der Abgrund aber auch eine wunderbare Möglichkeit, unliebsame Dinge für immer loszuwerden. Leroy stellte sich die Frage, ob man seine Leiche auch hinuntergeworfen hätte, wenn er am Gift des Sanguispilzes verreckt wäre. Schnell schob er den Gedanken beiseite.
Er erreichte das Ende der Gasse und stieß auf die Hauptstraße, die sich an dieser Stelle nahe dem Abgrund an der Küste entlangschlängelte. Leroy blieb stehen. Eines der mächtigen Luftschiffe lag vor Anker und warf einen gewaltigen Schatten auf die Straßen und Häuser. Die Segel waren eingeholt, die Zugbrücke hinaufgezogen. Es machte nicht den Anschein, als würde die »Wind II« alsbald auslaufen. Das Gewimmel auf der Hauptstraße erinnerte ihn an einen Ameisenhaufen. Kutschen, Karren, Reiter und allerhand Fußvolk trieben sich hier herum. Der Wind wehte den Geruch von frischgebackenem Brot herüber.
»Leroy! Leeeeroy!«
Ein Schreck schoss ihm wie eine Gewehrkugel in den Leib. Er fuhr herum, sein Herz schlug in einem schnellen Rhythmus gegen die Rippen. Wer hatte ihn erkannt? Ein Soldat? Hektisch suchte Leroy die Umgebung mit den Augen ab. Ein kräftiger, kleiner Mann, dessen Muskeln sich deutlich unter dem Hemd abzeichneten, bahnte sich mit erhobener Hand einen Weg durch die Menge. Er steuerte auf Leroy zu.
»Leroy! Warte doch«, rief er erneut und blieb abrupt keine zehn Yards von ihm entfernt stehen. Er klopfte einem anderen Mann auf die Schulter. Dieser umarmte ihn freundschaftlich, als der Stämmige ihm einen Lederbeutel gab. Leroy konnte nicht verstehen, worüber sie sich unterhielten. Er runzelte die Stirn. Anscheinend gab es noch einen Leroy in dieser Stadt. Eine Welle der Erleichterung erfasste ihn. Falscher Alarm, niemand hatte ihn beachtet. Er wollte sich
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