Jenseits des Windes
hatte nicht damit gerechnet, dass du tatsächlich noch einmal auftauchen würdest«, sagte sein Vater schließlich. Seine Stimme klang dünn und verletzt, ganz anders, als sie Leroy in Erinnerung geblieben war. Er versuchte verzweifelt, Zorn oder Enttäuschung im Gesicht seines Vaters zu erkennen, der aus leeren Augen zu ihm aufblickte. Erst jetzt fiel ihm auf, wie klein er war. Hatte er ihn schon immer um eine Kopflänge überragt?
»Was möchtest du von mir?« Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme, lediglich eine ernste Frage. Leroy wusste nicht, wie er reagieren sollte. Mit allem hätte er umgehen können, aber nicht mit unverhohlenem Desinteresse.
»Ich möchte einfach nur mit dir reden«, brachte er unter Aufbringung seines gesamten Mutes hervor. »Zwei Freunde begleiten mich.«
Sein Vater nickte und warf über Leroys Schulter hinweg einen Blick auf Elane und Kjoren. Er schnaubte. »Ein Firunenfreund? Wie kommst du denn dazu? Ich hatte immer geglaubt, deine Familie sei dir peinlich.« Nun lag doch ein Vorwurf in seiner Stimme. Obwohl Kjoren kein Halsband trug und sich die Haare geschoren hatte, entging Bjart nicht, zu welcher Rasse er gehörte. Man konnte ihn nicht täuschen.
»Vater, bitte lass es mich erklären. Dürfen wir hereinkommen?«
»Du kommst, weil du etwas von mir willst, nicht wahr? Wie hätte es auch anders sein sollen.« Nach einer kurzen Pause fügte er murrend an: »Kommt herein.« Bjart wies sie mit einer Geste an, ihm zu folgen und machte auf dem Absatz kehrt.
Leroy ging durch den winzigen Flur in den kleinen Salon, Kjoren und Elane folgten ihm. Das Licht im gesamten Haus leuchtete gedämpft, die Vorhänge waren zugezogen. Vieles hatte sich verändert. Leider nicht zum Guten. Den Boden bedeckte eine dicke Staubschicht, ebenso die Möbel. Spinnweben klebten in den Zimmerecken, an Bilderrahmen und sogar an den Büchern auf den Regalen. Es sah aus, als hätte für längere Zeit niemand mehr sauber gemacht.
»Wo ist Mutter?«, schoss es aus Leroy heraus, noch bevor er sich auf einen der schäbigen Sessel im Salon setzte. Kjoren und Elane nahmen auf zwei abgewetzten Stühlen Platz, die gefährlich knirschten.
»Deine Mutter ist schon vor über einem Jahr zu ihrer Schwester gezogen«, sagte sein Vater in nüchternem Ton. Er setzte sich auf das zerschlissene Sofa gegenüber von Leroy. »Wir haben schwierige Zeiten durchgemacht, Ista und ich. Ich denke, deine Mutter hat das einzig Richtige getan. Sie ist zurück in die Wildnis gegangen, auf ihre Heimatinsel Ked. Seit die Zustände für Firunen in Lyn so schlecht geworden sind, beneide ich sie bisweilen um diese Entscheidung.« Bitterkeit schwang in jedem Wort mit. Leroy spürte, wie sich seine Kehle weiter zuschnürte. Seine Mutter war fort, unerreichbar für ihn. Er dachte an das einzige Erinnerungsstück, das er von ihr besessen hatte. Es steckte vermutlich noch immer unentdeckt in der Ritze neben seiner Matratze in der Kaserne. Nie wieder würde er die Gedichte lesen können, die seine Mutter ihm geschrieben hatte, denn sie waren unwiderruflich verloren. Er fühlte sich wie ein Verräter.
»Weshalb seid ihr hier?« Der Blick des alten Mannes wanderte zwischen ihm und seinen Begleitern hin und her. Seine grauen Augen hatten jeden Glanz, jede Hoffnung verloren. Er wirkte matt und erschöpft und er machte nicht den Eindruck, als würde es ihn sonderlich interessieren, dass sein lange verschollener Sohn zu ihm zurückgekehrt war.
Bevor Leroy den Mund öffnen konnte, stellte n sich Elane und Kjoren mit einem schnippischen Ausdruck im Gesicht vor, nicht, ohne ihm einen tadelnden Blick angesichts seines unhöflichen Verhaltens zuzuwerfen. Elane entsprach durch und durch einer wohlerzogenen Frau. Sie ließ es sich auch nicht nehmen, von dem Anschlag auf Leroys Leben, ihrer Enterbung und Leroys vermeintlicher Abstammung zu berichten. Die Worte sprudelten förmlich aus ihr heraus und niemand unterbrach sie. Er fühlte Dankbarkeit in sich aufsteigen. Es ersparte ihm die Aufgabe, ein Gespräch am Leben zu erhalten, auch wenn ihm nicht gefiel, dass Elane die Aufmerksamkeit so unverfroren auf sich gelenkt hatte.
»Und wer ist er?« Sein Vater deutete in Kjorens Richtung.
»Ich bin lediglich ein armes Schwein, das beinahe getötet worden ist, weil es sich Leroy genannt hat«, sagte Kjoren in überspitzt beiläufigem Ton. »Außerdem kann ich nicht zu meiner Familie zurückkehren, ehe Ihr Zögling es nicht fertiggebracht hat, den tyrannischen König von
Weitere Kostenlose Bücher